Aus den Tagebüchern zweier Lebender

 

Viertes Kapitel

Liebes Tagebuch 24.12.1993

Claras Zustand ist nicht besser, aber auch nicht schlechter geworden. Ich kann nicht sagen, daß ich es geschafft habe, aber versuche es zu verdrängen, auch wenn ich weiß, daß es mir nicht gelingt. Ich will und kann mich nicht in Claras Gefühle hinein versetzen. Es wäre nicht gut. Wer weiß, was dann aus uns werden würde. So versuche ich mich mit dem Weltgeschehen abzulenken. Mit dem Erfolg, daß ich doch immer an die beiden denken muß. Die eine tot, die meine nicht weit. Ich darf nicht d`ran denken! Denk` an was anderes!!!

Auch wenn mir Weihnachten scheißegal ist, können die armen Leute nichts dafür, daß die Flüsse begradigt worden sind. Ihr Fest ist buchstäblich ins Wasser gefallen. Wenn ich die verheulten Menschen sehe, die ihr Hab und Gut verloren haben, wird mir eiskalt. Denn was ist dann ein Menschenleben? Ich wäre schon längst von dort weggezogen. Es ist doch nicht das erste Mal, daß Rhein und Mosel über ihre Ufer getreten sind. Aber das ist typisch für uns Menschen. Für die Schäden die wir der Natur zufügen, (Welche Gesellschaft nimmt schon Rücksicht, läßt Gefühle zu?) müssen immer die späteren Generationen aufkommen und bekommen sie am ganzen Leib zu spüren. Ob es irgendwelche Überschwemmungen, weil die Flüsse ja gerade sein müssen, Lawinen, weil wir ja die ganzen Wälder abholzen müssen, damit die Abfahrtspisten auch nicht zu eng werden, oder die Smogs in den Ballungszentren, weil ja jeder ein großes Auto fahren muß, sind, immer sind die Kinder, und das im doppelten Sinne, die Leidtragenden. Ich hasse uns!

 

28.12.1993

Schmerz, Leid, Trauer, Verständnis sind die Empfindungen, das blutige Salz auf meiner Zunge. Ich kann nicht, noch nicht, klar denken. Wer weiß, wie lange dieser Zustand mich friert. Luft strömt langsam, automatisch in mich und wieder weg. Ich sehe sie nur mir gegenüber nichts sagen mit starrem Blick. Oh! Mio mein Mio halt mich mein Leben, so kurz es geht für immer, nie mehr loslassen! Fragen, wieso, warum, Vorwürfe, sie hatte kein Recht? Alles Lügen! Heuchelt, verflucht ihr Sklaven und Treiber!

 

Liebes Tagebuch 6.1.1994

Am Samstag ist Tamara schon drei Wochen tot. Ich kann es mir eigentlich immer noch nicht richtig vorstellen. Am besten ist es, wenn man nicht d`rüber nachdenkt. Aber das sagt sich so leicht. Und wenn ich alleine bin, oder wenn ich Clara so in ihren Gedanken vertieft sehe, weiß ich genau woran sie denkt und automatisch bin ich dann auch in Gedanken bei ihr. Ich kann nicht einmal beschreiben wie ich mich fühle. Es kommt mir alles nur wie ein sehr schlechter Film vor. Und dabei hatte ich mir vorgenommen nicht daran zu denken, doch es zieht mich förmlich zu den Ufern. Viel Zeit muß erst einmal ins Land ziehen, damit ich später vielleicht mal verstehen kann, was heute in mir los ist. Doch was wird mit Clara? Ihre Lebenseinstellung hielt ich nie für die positivste, doch seit Tamara, habe ich irre Angst davor, daß sie überhaupt nicht mehr mit der Welt klarkommt. Wenn sie eines Tages nicht mehr für mich da sein würde, dann würde ich dafür sorgen, daß ich dann auch nicht mehr sein würde.

 

Liebes Tagebuch 13.2.1994

Ich kann wieder mal nicht einschlafen, da ich zur Zeit einfach zuviel nachdenke. Ich geh` förmlich auf in meinem Selbstmitleid. Ab und zu braucht man solche Phasen, jeder macht und braucht es, da bin ich mir sicher. Ich würde nicht unbedingt sagen, daß es Depressionen sind, vielleicht aber doch. Ich genieße dieses Gefühl ganz bewußt, es ist wie ein Frühlingsspaziergang nach einem langen Winterschlaf. Ich schöpfe aus diesen Phasen sehr viel Kraft und Lebenswillen, da ich mich endlos fallen lassen kann, denn ich weiß, daß mich meine Clara auffängt. Doch würde dieser Jungbrunnen eins Tages versiegen und es kommt eine von diesen gefürchteten Depressionen, dann weiß ich nicht, ob mir dann noch jemand zu helfen vermag, wenn meine Clara nicht mehr sein sollte, außer der Tod. Wenn mich jetzt jemand hören könnte, würde er mich für verrückt oder wichtigtuerisch abstempeln. Und das bin ich wie alle Menschen mehr oder weniger auch, jeder braucht das Gefühl, daß er von der Umwelt wahrgenommen wird, egal wie. Doch geht es mir nicht darum, im Mittelpunkt zu stehen. In meinen Augen hat das Leben keinen rechten Sinn, außer die Erhaltung der Art. Und das geht auch ohne mich. Also brauche ich einen Grund noch nicht jetzt Schluß zu machen. Denn was nützt ein sinnloses Leben? Dieser Grund ist meine Clara.

 

14.2.1994

Tamaras Tod läßt mich nicht ruh`n, verfolgt mich, meine verborgensten Winkel bieten keinen Schutz. Wie sie sich die Zähne wetzen, ihr Maul zerreißen, als wüßten sie, was Gefühle sind, und Schmerzen, die ein Leben unerträglich machen können, welch unheilbares Leid sie über Menschen bringen, so daß jeden keimend Schimmer von Hoffnung, daß es besser werden könnte, im kleinsten Stadium wird erbarmungslos erstickt. Und wenn sie schelten, daß es Sünde sei, denn Punkt des Geh`ns selbst zu setzen, so ist dies ein Glaube - ihr Glaube, den ich nicht hab` und auch sie nicht hatte. Es ist das Recht des fühlend Individuum. Und wenn sie trocken von sich geben, daß es feige Flucht vor dem all zu harten Leben sei - Dann sag` ich: So bin ich in diesem Augenblick zu feig` dem Tode in den Rachen - in seinen Hals zu springen, doch weil ich nicht weiß, was kommen mag, so leb` ich feige weiter ein qualvoll Leben, bis mir der Mut zum Wendepunkt gewachsen ist. Und sie, sie war nicht feig`, ihr Mut, vom Wahn des Titanenschmerz genährt, wies ihr den letzten Pfad, den ausweglosen Raum, in den sie sich, voll Kummer, hat begeben, nun doch, auf ihre Art verlassen. Und ist es nicht des Herrenwort, das Schicksalslos zu tragen, voll Stolz und ohne Widerspruch, vor Angst, daß ihn einer seiner untertänig` Sklaven könnt verlassen, diesem bald der eine, bald der andere folgen könnt, und am Ende stünd` der hohe Herr ganz allein auf seiner Welt und müßt` zu allem Überdruß, die Taten seiner Sklaven allein vollbringen. Ist der nicht ein Narr, der die Knechtschaft vor der Freiheit wählt? So war Tamara an ihre Liebe, wie in Knechtschaft, fest gebunden. Ihr Herz unendlich weit entrückte, so daß ihr Schmerz den Lebenswill`n zerdrückte.

 

Liebes Tagebuch 17.2.1994

Gott oder Götter existieren nur in den Phantasien der Menschen, die den Glauben an sich selbst verloren haben. Daß Er oder Sie nicht existent sind, ist eine Tatsache und keine Vermutung. Nicht Gott schuf die Welt, sie ist auch nicht flach wie eine Scheibe, den Mittelpunkt des Universums bildet sie auch nicht, um die sich die andern Planeten drehen, wir stammen vom Affen ab und nicht vom Allmächtigen. Das Buch der Lügen wurde noch nicht geändert und der Glaube noch nicht abgeschafft, obwohl sie die verfaulten Reliquien eines verwesten Machtsystems sind. Und aus südlicher Richtung hallte der Ruf: "Und sie bewegt sich doch!" Und das Echo in meinem Ohr klingt: "Und sie schlafen immer noch!"

 

Liebes Tagebuch 26.2.1994

Die positiven wie auch die negativen Erlebnisse und Einflüsse, die sich in mein Hirn einarbeiten, die sich bei jedem einbrennen, machen jeden Menschen zu einem Unikat, vielleicht sogar zum Genie. Dieses Wissen ist für jeden Mensch von unschätzbarem Wert, in einer Zeit, wo es kaum noch Originale, nur noch Kopien, gibt. Wo das Nachäffen mehr gilt, als das individuelle Ausleben des persönlichen Empfindens. Wir haben in der heutigen Zeit verlernt natürlich zu leben. Der Fortschritt, die Zivilisation betrachte ich als das Gegenbild der Natur. Je zivilisierter wir werden, je mehr entfernen wir uns von unseren natürlichen Wurzeln. Wir bezahlen dies, in den Eigenschaften und Fähigkeiten die wir einbüßen. Der natürliche Rhythmus des Lebens wird von der Fähigkeit ihn zu verändern verdrängt. Das Leben kann künstlich verlängert werden, auch wenn es keinen Nutzen mehr bringt. So clean wir unsere Wohnstätten machen, so gründlich reinigen wir unsere Phantasie von jeder Kreativität. Somit sinkt aber auch der Anspruch, den wir an das Leben, die Musen stellen. Die Folgen sind: jeder Scheiß gilt als Kunst, egal wie, und jeder einfallslose phantasie-kastrierte geldgierige Arsch kann behaupten ein Künstler zu sein. Ich fordere ja nicht, daß die Künste nach Regeln und Gesetzen gehandhabt werden müssen. Aber eine gewisse Harmonie, Ästhetik sollte doch jeder für sich als fliessende Grenzzone haben, mit deren Hilfe er die Schönheit des Einmaligen von der Masse der schöngemachten geklauten billig Dubleekaten unterscheiden kann. Mir geht es doch nicht um die Auflösung des Banalen. Es muß ja auch eine Kunst für die Masse geben, und die Masse ist, in meinen Augen, so hart wie es auch klingen mag, so arrogant wie es auch scheint, verdummt und unfähig mit ihren eigenen Augen die Umwelt wahr zu nehmen. Ja sie schreit förmlich danach, jeden Tag auf`s neue, belogen zu werden. Durch die Medien wird ihr alles, was sie zu brauchen hat, injiziert und bekommt vorgeschrieben zwischen welchem Grau sie wählen darf. Für diese großzügigen Gesten werden dann die Sender mit Einschaltquoten und Verlage mit Auflagenzahlen belohnt. Bunte Farben werden aus Furcht mit aller Macht in breit angelegten Kampagnen bekämpft. Weil sie die Wurzeln der Macht mit Fäulnis befallen und den Baum, der sich Gesellschaftsordnung nennt und die, welche die Macht inne haben, zu Fall bringen könnte. Ihre Furcht ist berechtigt. Denn dem ist so. Doch der Kampf ähnelt mehr der Bestrafung des Sisyphos, und sieht nicht nach einer Fällung eines verpesteten Baumes aus. Weil die Masse taub ist, hört sie die wenigen geistesgestörten Kinder, die da rufen: "Der Kaiser ist nackt!" schon lange nicht mehr. Wenn sie es überhaupt je gehört hat!?

 

26.2.1994

Der Glaube ist die stärkste Kraft, die Mord und Totschlag seit ewigen Zeiten der Menschheit hat gebracht. Vernunft und Denken sind nah`verwand, doch aus ihren Köpfen endgültig verband. Ein Streit um Land und Religion, auf ihrem Land woll`n Juden wohn`, Leichen gibt es immer wieder, in den Straßen sieht man nichts als Krieger, auf der einen, wie auf der and`ren Seite. Es stehen Kinder, sehen nicht, werden eher noch blinder, mit den Steinen in den Händen und den Lügen in ihren Geistes-Wänden den Berufsgiganten mit den Mordwerkzeugen Aug` in Aug`. Fanatisten beider Seiten schüren gnadenlos den Haß, auf daß der Friede nie mehr kommen möge und nur ein Sieg Befreiung schafft.

 

Liebes Tagebuch 28.2.1994

Der ganze Rummel um die Reichstagsverhüllung, ich möchte schreien. Sie werden es nie kapieren, daß es keine Menschen gibt, die ihrer Zeit voraus sind. Es gibt nur Menschen, die ihrer Zeit weit hinterher sind. Doch was der Typ als Kunst verkauft ist nichts als geldverschwendende Sinnlosigkeit. Er erinnert mich an die Hochstapler, die sich als Schneider ausgaben und dem Kaiser ein Gewand aus Luft verkauften. Und alle beteuerten wie gelungen es doch wäre, weil sie Angst hatten, daß jemand bemerken könnte, daß sie unfähig sind. Genauso kommen mir jetzt die Schreihälse vor, die vorgeben, was von Kunst verstehen zu können und mit standing ovations Christo zujubeln.

 

Liebes Tagebuch 4.3.1994

Vor drei Tagen hatte ich einen merkwürdigen Traum. Clara und ich renovierten unsere Wohnung und Tamara kam zu Besuch um sich von uns zu verabschieden. Als dann noch Claras Mutter, Ma und Dad helfen kamen, bemerkten wir, daß nur wir beide Tamara sehen und hören konnten. Alles war so echt. Sie war schon tot und wir haben sie gedrückt und mit vielen Tränen verabschiedet. Als ich erwachte, hatte ich ein total verheultes Gesicht und selbst jetzt da ich es aufschreibe kommen mir schon wieder Tränen in die Augen.

 

9.3.1994

"Verschließt die Grenzen, daß die Wilden nicht unser`n Reichtum stehlen! Den wir im harten Kampf über Jahrhunderte aus ihnen herausgepreßt und aufgesogen haben." Das Erste kann man deutlich aus vielen Munden hören, mit geschürter Wut und blindem Haß, das Letzte, das weiß kaum ein Aas, der dem Brüllen Glauben schenkt. Daß Millionen Menschen hungern müssen ist sehr wohl bekannt, daß sie für unser`n Luxus bluten müssen, wird von der Masse nicht erkannt. Wirtschaft, Finanzen und auch die Politik sorgen mit großem Eifer, daß diese Sache im Verborgenen liegen bleiben und verfaulen möge. Ist es doch das Fundament auf dem ihre Allmacht sicher ruht.

 

Liebes Tagebuch 16.3.1994

Clara hat mich gefragt, was nach dem zivilem Jahr wird. Ich weiß es nicht. Ich will nicht mehr studieren. Wozu? Weshalb? Was? Nein, ich habe nicht den Ehrgeiz, um eine Kariereleiter nach oben zu steigen. Nur um des Wissens Willen zu studieren, nein. Wissen ist nicht halb so wichtig wie fühlen. Außerdem wendet der Mensch das Wissen eh an den falschen Stellen an. Nur damit er seine Gier befriedigen kann. Nein, ich will auch nicht solch ein Fachidiot werden, der sich seiner Verantwortung entzieht.

 

Liebes Tagebuch 20.3.1994

Clara will wieder zu Rötschels, weil sie sich bei ihnen wohlfühlt. Und weil es ein nicht ganz so kostenintensiver Urlaub werden soll. Rötschels haben nämlich angeboten, daß wir im Juni herzlich willkommen sind. Weil Ma erzählt hat, daß wir noch keine Urlaubsplanung vorgenommen haben. Außerdem weiß Ma, daß ich sehr an den Alten hänge. Morgen werde ich sie gleich selber anrufen und fragen ob sie uns wirklich haben wollen.

 

20.3.1994

Wenn sie von ihrer Heimat aus die Welt anschreien, kein Staat das Unrecht sehen will, den Tyrannen Millionen leihen, um der Geschäfte Willen bleibt ein jeder still. Blockieren Deutschlands liebstes Kind, daß man ihr Joch bemerken soll, bei Völkerrechten ist der Deutsche blind, Kurden raus! - Deutschland ist schon viel zu voll.

 

Liebes Tagebuch 2.4.1994

In der letzten Nacht, wie ich von Clara nach Hause gelaufen bin und fasziniert mit meinen Gedanken am Himmel klebte, wurde mir klar, daß das Leben eine zielstrebige Entwicklung ist. Alles läuft auf eine gezielte Evolution hinaus. Ich stütze mich bei meiner Theorie auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse. Im einzelnen betrachtet ist die Evolution ein Wirrwarr von Zufällen, aber im Ganzen, ist sie ein Netz von Zielstrebigkeiten, welches so eng und kompakt geknüpft ist, daß es von unserer Vorstellungskraft nur zum Teil, wenn überhaupt, überblickt werden kann. Ein wirkliches Verstehen des Ganzen rückt somit in unerreichbare Ferne. Es ist das Ziel der Natur eine Art zu erhalten. Durch eine Fülle von Zufällen werden unterschiedliche Eigenschaften hervorgebracht und ausprobiert. Die besten Eigenschaften werden behalten und weiterentwickelt. Lebensformen mit überholten Eigenschaften werden von der Natur ausselektiert. Nur wir werden die erste Art sein, die sich selbst ausselektieren wird, aber wir sind ja auch nur ein Teil der Natur. Doch das Ziel bleibt das selbe, die Erhaltung der überlebensfähigsten Art. Nehmen wir die Beispiele der Flügel und Federn. Deren Stoffzusammensetzung, Bau und Funktion so ausgeklügelt sind und sich bewährt haben, daß die Natur diese Entwicklungen Tausenden Arten zum Fliegen gab. Und bei den Insektenflügeln, haben wir die gleiche Zielstrebigkeit. Wenn alles nur reine Zufälle sein sollen, dann dürften die Anwendungen dieser Verfahren nicht in solchen Dimensionen auftreten und die Varianten der Flugfähigkeit müßten in`s Tausendfache gehen und sich nicht auf weniger als vier beschränken. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter, denn nicht nur die Evolution, das Leben ist in meinen Augen zielstrebig. Nein, ich behaupte, daß die ganze Natur, die Erde, unser Sonnensystem, die Milchstraßen, ja das gesamte Universum zielstrebig ist. Denn alles beruht auf Naturgesetzen, auch wenn wir bei weitem nicht alle entdeckt und erforscht haben, einige noch falsch sein mögen, so weisen sie eine Zielstrebigkeit auf. Bloß weil wir nicht wissen, wo diese Zielstrebigkeit hinführen wird, können wir sie nicht ausschließen, oder sogar leugnen. Wenn ich von Zielstrebigkeit rede, darf man sich nicht vorstellen, daß da irgendwas oder irgend jemand sich vornimmt, eine Sache zu tun. Das wäre wieder nur die Betrachtung einer Sache. Doch der Mensch, durch seine eingeschränkte Vorstellungskraft, neigt dazu, es sich so leicht wie nur möglich zu machen. Auch wenn die Wahrheit dabei auf der Strecke bleibt. Vor vielen vielen Jahren machte man Götter oder den Gott für Naturereignisse verantwortlich, weil man sich ihre wahren Ursachen nicht erklären konnte, und es viel bequemer war, mit Göttern zu erklären. Heute wissen wir, daß kein Gott Blitz und Donner sandte. Warum diese Götter heute noch existieren, ist mir ein Rätsel.

 

Liebes Tagebuch 19.4.1994

Ich fühle mich sehr schlecht, nicht körperlich. Es ist wieder einmal eine von diesen mir so verhaßten Depressionen. Als ich heute auf dem Friedhof bei Tamaras Grab war, fing sie an. Erst ganz leicht, so daß ich sie kaum wahrnehmen konnte und als ich dann zu meiner Wiese fuhr, kam sie aus ihrem Versteck hervorgesprungen und verpaßte mir einen riesigen Schlag mit einer Keule an den Kopf. Ich habe sehr starke Gedanken an Selbstmord, doch sind sie auch sehr abstrakt. Zum Glück gibt mir Clara noch das Gefühl gebraucht zu werden und das Bedürfnis noch Pläne zu verwirklichen. Wenn es nicht so wäre, würde es sicherlich schlechter um mein Leben stehen. Denn weit und breit ist kein Lichtblick zu erkennen.

 

Liebes Tagebuch 21.4.1994

Die Schuld

Eine Schnecke kriecht über eine Straße, da kommt ein Träker. Die Schnecke ahnt nichts von der Gefahr, die ihr droht. Der Träkerfahrer ist in Gedanken, sieht die Schnecke nicht. Das Schneckenhaus zerberstet in Bruchteilen von Sekunden. Sie hat nichts gemerkt und er hat nichts gemerkt. Die Schnecke klebt nun als eine Masse, die kaum noch als Schnecke zu erkennen ist, auf der Straße.

Hatte die Schnecke Schuld? Sie hätte ja nicht über die Straße kriechen brauchen.

Hatte der Fahrer Schuld? Er hatte sie ja nicht gesehen, und selbst wenn er sie gesehen hätte, wer sagt denn, daß er um sie einen Bogen gefahren wäre.

Oder ist der Träker schuld? Es war sein Gewicht, welches das Haus zerstörte.

Oder das Rad? Es rollte ja schließlich über die Schnecke hinweg.

Oder ist der Erbauer des Rades schuld, oder der Erbauer des Traktors, oder die Erfinder des Traktors, des Rades, des Motors, die Zulieferbetriebe der Traktorproduktion?

Wer hat nur Schuld?

Wer hat nur Schuld am Vernichten, Zerstören, Töten, unbewohnbar machen des Blauen Planeten?

Glauben denn die paar naiven Phantasten der Ökobewegung, daß sie unter spektakulären Aktionen, in denen sie ihr unbedeutendes kleines Leben auf`s Spiel setzen, daß sie etwas retten können, was schon längst dem Untergang geweiht ist?

Mit jeder Aktion, die sie unternehmen und die die Weltöffentlichkeit erreicht, werden zehn neue versteckte Vergewaltigungen an der Erde verübt.

Wir haben es noch nicht gemerkt, weil wir nur das wahrnehmen, was uns persönlich betrifft, nur uns allein und keinen anderen.

Die Welt auf der wir leben, ist zu sehr verletzt. Wir verletzen unsere Erde jeden Tag auf`s Neue. Wir überkleben die Wunden mit bunten Pflastern, aber wir machen die Wunden nicht sauber. Wir pflegen den Patienten nicht. Unter den Pflastern bilden sich eiternde Geschwüre, die wir nicht bemerken, nur wenn der Zufall es will, weil wir ausversehen ein Pflaster entfernen. Dann schlagen wir die Hände über unseren Köpfen zusammen und Minuten später haben wir es vergessen, denn es sind ja nicht unsere eigenen Geschwüre, die wir erblickt haben.

Wenn wir die Wunden von den Ökonarren gezeigt bekommen, schrecken wir kurz auf, wie bei einem Nadelstich, und Sekunden später können wir uns an nichts mehr erinnern, haben alles vergessen. Wie ein Kind, das einen Luftballon haben will, wenn es ihn hat, lässt es den Ballon los und spielt wieder im Dreck.

Es gab eine Zeit, da konnte sich unsere Erde, von den Schäden, die wir ihr zufügten, selbst heilen, daß ist unendlich lang her.

Wer hat Schuld, wenn die Erde in wenigen Jahren, gemessen am Zeitraum den sie existiert, nicht mehr bewohnbar ist?

Die Forscher und Wissenschaftler, weil sie dafür sorgen, daß alles noch gründlicher und schneller geschieht?

Die Politiker, weil, sie haben doch angeblich die Macht alles zu ändern, warum unternehmen sie dann nichts?

Die Bosse der Wirtschaft und Industrie, weil sie aus Gier über Wunden und Leben gehen?

Die Armen, weil sie nicht aufbegehren und nur vom Wohlstand träumen?

Der einfache Mensch, weil er zu müde zum Denken ist?

Die Gläubigen, weil sie auf Götter vertrauen, die nicht existieren?

Wer ist schuld am Tod der Schnecke?

 

 

26.4.1994

Im Herz war das Löwenland schon immer schwarz, rot färbt sich jedes Geschwür. Schwarz zieh`n Wolken über Wälder weg, Geschwüre stinken mörderisch. Die Frage, wer im Recht doch sei, ist nicht mehr relevant, Männer, Frauen und Kinder werden hier verbrannt. Die Wurzeln für die Stammesfehden reichen weit hinab, doch wahre Gründe wird es niemals geben, weil es niemals welche gab.

 

Liebes Tagebuch 5.5.1994

Jetzt ist es ganz offiziell für die Behörden, daß ich bei Clara wohne und nicht mehr bei meinen Eltern. So ein Schwachfug. Aber die Wölfe müssen ja schließlich wissen wo ihre Schäflein wohnen.

 

Liebes Tagebuch 13.5.1994

Alljährlich wiederholt sich das Schauspiel zum Männertag. Besoff`ne auf Rädern, Kutschen oder zu Fuß. Die meisten nutzen diesen Anlaß für wenige Stunden aus ihrem Alltag zu entfliehen, und ihr Heil im Delirium zu suchen. Sie sind im eigentlichem Sinne friedlich, doch Chaoten gibt es immer und überall. So nahmen gestern in M. einige dieser nationalistischen Universalhohlköpfe den Himmelfahrtstag als Jagdsaisoneröffnung und gingen auf die Hatz. Wie ich sie so im Fernseh`n sah, fragte ich mich sofort, warum sie nicht gleich auf Rentner, Behinderte und Kinder gehen, die können wenigstens nicht ganz so schnell abhauen und wehrloser sind diese Gruppen oben drein. Aber das würde der Staat dann doch nicht tolerieren - das ginge dann ja auch zu weit. Irgendwo müßten ja die Grenzen gesetzt werden. Es ist schon komisch, zu den Maifestspielen in B. liefern sich Gruppen, die der linken Szene zugerechnet werden offene Straßenschlachten mit dem Staat. Das ist zwar auch nicht immer gerecht, aber die Chancen sind gerechter verteilt. Gruppen von den Rechten dagegen agieren entweder heimlich nachts, oder sie suchen sich Opfer, bei denen sie sichergehen können, daß sie selber nicht zu Gejagte werden. Ich bewundere ihren Kampfesmut, denn irgendwie muß ja der "doitsche" Heldenmythos entstanden sein.

 

Liebes Tagebuch 9.6.1994

Gestern sind wir eingetroffen und Rötschel empfingen uns, ich würde fast sagen, noch herzlicher als früher. Den ganzen Abend verbrachten wir mit den Beiden, denn wir hatten uns so viel zu erzählen.

 

Liebes Tagebuch 18.6.1994

Was ist das nur für ein Leben? Rennen die ganze Zeit der Kohle hinterher und vergessen glatt das Leben. Fügen uns nahtlos in das System und hoffen nicht von ihm zerdrückt zu werden. Sind glücklich über jeden Aufschub, den man uns gewehrt, wenn wir für kurze Zeit im Urlaub sind, dem Alltag entfliehen dürfen, um mit neuen Kräften wieder in der Masse unterzugehen und mit unser Arbeit die Mächtigen noch mächtiger machen, daß sie die totale Kontrolle haben, um alle ungehindert ausbeuten und zerstören können. Das Sommergewitter ist das Bühnenbild das ich hinter diesem Schauspiel sehe. Es ist nicht bedrohlich, denn wir bedrohen uns selbst.

 

23.6.1994

Kaum zurück vom Urlaubsschaum, Empfang zu Haus - ein böser Traum. Doch dieses ist die Wirklichkeit hier in deutschen Landen. Herr Decker, ein guter Volksgenosse, wurde von seinem treuen Rechtsverdreher, doppelt - ist es wohl gemeint, aus den linken Klauen der Staatsanwaltschaft, mit großer Unterstützung von rechten Richtern, wie recht(s) sie wirklich sind - ist freigestellt, freigerissen - rausgebissen. Bewährungsstrafe hat er nun bekommen, denn Volksverhetzung wird in Deutschland ni`me`r ernst genommen.

 

Liebes Tagebuch 3.8.1994

Jetzt fangen auch schon meine Eltern an, was mit mir werden soll, wenn mein ziviles Jahr in einem Monat zu Ende geht. Ich weiß es nicht. Eine Lehre habe ich nicht gefunden, das heißt, ich wüßte nicht was ich werden sollte. Es gibt eh viel zu wenig Ausbildungsplätze, warum soll ich dann so einen Platz blockieren, wenn andere genau diesen Beruf werden wollen? Clara ist über meine Gleichgültigkeit sehr erschrocken und macht sich Vorwürfe, sie hätte mich mit ihrer lebensfeindlichen Einstellung angesteckt. Vielleicht hat sie es wirklich? Doch empfinde ich es nicht als eine Krankheit sondern als eine Augenöffnung, sie hat mir gezeigt wie die Welt ist und warum. Nur wenn ich ein Kind geblieben wär`, dann hätte mich alles nicht gestört, dann wäre ich vielleicht glücklich geblieben, doch jedes Kind wird einmal erwachsen.

 

10.8.1994

Ein Volk

Ein Volk zog einst umher,

Einfach so, vom Gebirg` zum Meer.

Sie fanden ein Ding

Doch keiner wußt`, wozu es ging.

 

Ein Volk war einst gezogen.

Es hatte gesucht ein and`res Ding.

Keine Erwartungen hatten sie bewogen,

Gefunden wurde ein passend Ring.

 

Ein Volk, das zieht umher,

Es erwartet nun am Meer,

Voll Neugier doch ohne Plan,

Laufen umher schon wie im Wahn.

 

Ein Volk ist nun gezogen.

Das Ding geplant, es zu gebrauchen,

Ohne Lernen, es zu schonen,

Mit dem Ring ist es gelaufen.

 

Ein Volk wird zieh`n umher.

Es wird lernen hier am Meer,

Doch das Ding werden sie nicht begreifen,

Denn zu sehr sie sich auf das Ziel versteifen.

 

Ein Volk wird einst gezogen sein.

Es wird dann auch begriffen haben,

Doch zerstört ist dann das Sein,

Der Ring, das Ding, die himmlisch` Gaben.

 

Liebes Tagebuch 25.8.1994

Ich will nicht sagen, daß ich Glück habe, oder zufrieden bin, aber ich weiß wie es weitergeht, meine Eltern können sich beruhigen und Clara ist auch zufrieden. Denn der Chefarzt hat sich für mich eingesetzt und auch andere Ärzte und so werde ich als ungelernte Kraft als Nahrungsmittelverteiler im Krankenhaus eingestellt. Ich verdiene zwar nicht das große Geld, aber wozu braucht man denn viel Geld? Glücklicher macht es einen ja auch nicht. Es befriedigt doch nur unsere Habgier.

 

27.8.1994

Seit ein paar Jahren schaut unser Fidel viel zu oft in seinen Spiegel, die Realität kann dadurch er nicht mehr seh`n, doch er ist alt, man muß versteh`n. Sein Ideal, das ist gerecht, nur was er tut, das ist schlecht. Doch sollten all die ganzen Nachbarstaaten, besonders der im Norden, lieber schweigen - würd` ich denen raten, denn viel gerechter sind die auch noch nicht geworden.

 

Liebes Tagebuch 28.8.1994

Ich habe diese sinnlosen Diskussionen über die Durchführbarkeit des Kommunismus so satt! Es ist das humanste System, welches wir uns vorstelle können und wünschen sollten. Doch es ist eine Utopie. Es gibt drei Gründe, warum der Kommunismus in meinen Augen nicht funktionieren kann. 1.) Die Tatsache, daß sich alle bisherigen Gesellschaftsformen über sehr lange Zeiträume entwickelt haben und auch die Übergänge, von der einen zur nächsten, langwierige Prozesse waren, ist ein grundlegender Fakt, den es zu beachten gilt. 2.) Die Theorien von Marx, Engels und Lenin berücksichtigen überhaupt nicht den Faktor Mensch, nur die unterschiedlichen Klassen. Ich betrachte dies als einen entscheidenden Fehler. Denn der Mensch ist als Individuum ständig bestrebt mehr zu besitzen als seine Umwelt. Dieses Bestreben beruht auf dem natürlichen Trieb zu überleben. Die Natur bestimmt, daß nur die stärksten, also die, die sich am besten durchsetzen können, überleben und sich fortpflanzen können. Es gilt das Gesetz des Stärkeren. Auch bei den Klassen ist das Gesetz des Stärkeren wirksam. 3.) Wenn Marx seine Theorien auf den Naturgesetzen aufgebaut hat, warum hat er dann nicht berücksichtigt, daß dieses Gesetz auch auf den Menschen, als Teil der Natur, anzuwenden ist. So wird es immer Unterdrückte und Unterdrücker geben. Aber diese Theorien als bösen schwarzen Mann mit der Sichel in der Hand darzustellen, der den Kindern die Eingeweide raußschlitzt, um sie zu genießen, ist wesentlich perverser, als auf etwas Gutes zu hoffen und daran zu glauben, auch wenn es sich nie erfüllen wird. Und während sich alle darüber die Mäuler zerreißen, wird die Humanität von bezahlten Killern heimlich hingerichtet. Es widert mich an, einfach nichts dagegen unternehmen zu können.

 

3.9.1994

Nie hätt` ich gedacht, daß Musik mein Empfinden, auf tausendstel Punkt genau, wiedergeben würd`. All mein Aufschrei`n, der Schmerz in meinem Herzen, gegen die saugenden Gotteskinder an meinem Hirn, wandeln Denkende in Betende - in Tote. Keine Musik ist`s! Quell` der Wahrheit über meine Seel`. Texte muß man nicht versteh`n , kann ich doch all das Leiden aus dem Klang verspüren. Wurd` doch Angst nie zuvor lebend`ger vorgebracht. Ich hörte sie, heut` zum ersten Male, als ich in das Zimmer eines kranken Körpers mit heilem Geiste kam, und erkannte voll Entsetzen mein vor Schmerzen schreiend "Ich". War Musik einst ein unentdecktes fernes mir verborg`nes Land, muß ich mich nun täglich in den Dom - Neurosis tief geweiht - begeben.

 

11.9.1994

Fühl` ich mich gut, oder geht`s mir schlecht, die Sicht, der Dinge dieser Welt, hängt stets vom Fühlen im Augenblick des Sehens ab. Bin ich gut drauf, ist Ernst mir fremd, er ist`s, der Menschen stets am Leben hemmt. Nehm` kein Wort aus keinem Munde voll, da macht die sarkastische Ironie das Leben toll. Doch ist mein Geist dem Frohsinn unendlich fern, fehlt dem Leben jeder Kern, reib` mich daran auf, kein Weg scheint mir, führt da heraus. Vor dem Tode ist mir nicht bang, es ist die Angst, ich könnt versagen, schon spür` ich das Geschwür im Magen, wie es wächst und größer wird. Bild` ich`s mir nur ein, ist es wirklich nur Schein? Dann bin ich wahrhaft verrückt, ganz krank im Kopf. Doch die and`ren sind`s doch auch, wenn nicht noch mehr, doch sie merken`s nicht, denn ihre Köpfe sind so leer.

 

29.9.1994

Mios Geburtstag hin, Mios Geburtstag her, doch die "Estonia" fährt nicht mehr. Mit ihr sanken viele Menschenleiber auf den Grund der kalten See, Angehörige weinend klagen, denn jeder Verlust im Herzen verursacht Schmerzen. Nun werden sie die Schuld`gen jagen, vorausgesetzt, man findet sie. Von der wahren Schuld ist keiner frei, selbst die da sagen: ich war nicht dabei! Denn schuldig ist nicht nur der, der böses macht, auch der, der ihn dabei bewacht, und die, die sich nicht regen, die nichts dagegen unternehmen.

 

10.10.1994

Den Fehler mach` ich kein zweites Mal

Erster Teil

 

Einst vor langer langer Zeit

Auf dieser uns`ren Welt

Herrschten gewalt`ge riesen Viecher.

Sie waren mächtig und auch stark,

An Größe nicht zu überragen.

Nur ihr Kopf, der war zu klein,

Auch ihr Hirn war minimal.

Doch ganz allein herrschten sie.

Futter gab`s im Überfluß,

Ihr Leben schien ganz sorgenfrei.

Ihre Zahl, die wuchs und wuchs.

Auf einmal wurd` ihr Futter knapp,

Den Viechern war das egal,

Denn durch den viel zu kleinen Kopf

Das Denken ihnen nicht gelang.

Das Futter war auf einmal weg

Die Viecher kurz darauf.

So dacht` sich nun die Natur:

"Den Fehler mach` ich kein zweites Mal."

 

Zweiter Teil

 

Vor nicht allzulanger Zeit

Auf dieser uns`ren Welt

Herrschten intellektuelle Kreaturen.

Sie waren schlau und nicht sehr groß,

An Klugheit ungeschlagen.

Nur ihr Verstand, der war zu klein

und viel zu groß war ihre Gier.

Doch ganz alleine herrschten sie.

Reichtum gab`s im Überfluß,

Ihr Leben schien ganz sorgenfrei.

Von den verschwund`nen Viechern wußten sie

Und dachten: "Uns passiert das nich`,

Zu schlau sind wir geraten."

Machten sich die Erde Untertan,

Bis diese tot zusammen brach.

Das Futter war auf einmal weg,

Die Kreaturen kurz darauf.

So dacht` sich nun die Natur:

"Den Fehler mach` ich kein zweites Mal."

 

Liebes Tagebuch 26.10.1994

Mir ist so übel - mir ist so schlecht. Und dabei erfahren wir doch nur ein Bruchteil von dem, was wir tagtägliche anrichten - zerstören. Wenn die Umweltorganisationen nicht solchen Druck gemacht hätten, hätten wir es nie erfahren. Doch nun weiß es jeder und doch kann sich das Ausmaß keiner vorstellen. Über ein halbes Jahr hat es gedauert bis es an die Öffentlichkeit gelangte. Im Februar hat ein Leck in einer russischen Ölpipeline 300 000 000 Liter Öl in Sibirien verloren und eine Fläche von über 68 Quadratkilometer verseucht - für Jahrhunderte. Und die vielen kleinen Löcher der alten Pipelines zählt eh keiner, weil es ja keiner mitbekommt. Ich kann nicht einmal mehr weinen. Wir haben es verdient, mehr als verdient, von der Erde zu verschwinden.

 

12.11.1994

Geboren, leben, sterben ist der Lauf des Seins, bestimmt von Naturfaktoren. Krankheit, Hunger und Katastrophen sorgten, daß nur die Menschen, Menschen bleiben durften, die solche Dinge überstanden und als bestgeeignet Partner zur Vermehrung fanden. Mit diesem dann die Art erhielten. So war`s, bis der Mensch die Medizin erfand. Heute werden schon gerettet Frühchen, die nicht mal 1 000 Gramm erreichen, mit Schäden, die nicht wieder gut zu machen sind. Nach ihrer Lebensqualität wird da nicht gefragt. Und all die armen Selen, die nur noch mit Maschinen laufen, die kein Leben führ`n und auch keins mehr erwarten können, die sich ein Ende sehnen, mancher sagt`s sogar und keiner hat den Mut, den Stromfluß zu beenden. Höher, schneller, weiter dank der Technik, dank der Medizin. Menschen, die früher sterben mußten, konnten nunmehr weiterleben und ihre Schwächen weitergeben. Kaum ein Mensch ist heute noch ganz kerngesund, klagen über immer neue Schmerzen, fordern noch mehr neue Medizin, auf daß wir noch länger kränker weiter durchs Leben geh`n können. Wenn das so weiter geht, kommt jede Vernunft für uns viel zu spät. Denn in hundert Jahren wird es dann nur noch unsterblich Kranke geben. Medizin, was bist du für ein Segen.

 

Liebes Tagebuch 27.12.1994

Spinn` ich, oder drehen jetzt auf einmal alle durch? >Du mußt jetzt richtig gute Arbeit machen!< fuhr mich heute eine Stationsschwester an. Denk` nicht drüber nach! Sag` ich mir in solchen Augenblicken und dann "AAARRRRRR!", der große Schrei des Hasses aus meinem friedlichen Herzen. Die Leute brauchen sich nicht zu wundern, wenn einfache liebe Menschen, die von der Gesellschaft und ihrer Umwelt so lange verkaspert werden, bis sie mit blutunterlaufenen Augen Amok laufen. >Na, das hätte ich ihnen gleich sagen können, daß der Typ nichts taugt. Wie der schon ausgesehen hat. Da habe ich schon zu meiner Kollegin gesagt: Heidi, der Neue kommt mir unheimlich vor.< Wie ungebildet muß man eigentlich sein, um so weit neben dem Leben zu steh`n? Meine Verachtung solchen Menschen gegenüber ist größer als mein Respekt vor der Unendlichkeit des Universums. Es ist schon seltsam, wie eine solche Nichtigkeit von mir Besitz ergreifen kann und zu einem Stinkfurz wird, bevor ich ihn tief inhaliere und dann einfach ausrülpse. Ich verachte sie, alle wie sie da sind, die da glauben, daß sie die leiblichen Nachfolger Petrus und ihre Kaffeetasse der Heilige Gral seien.

 

1.1.1995

Zu heiß ist das Öl den Folterknechten nun geworden, mit dem sie so viele alte "Volks Eigene Betriebe" haben ausgebrannt. Man tat das Leichteste und hat die Scheiße umbenannt. Durchzogen von Maden, Würmern, Vieren und auch Pilzen, von heut` und auch aus alten Zeiten, den Kampf kann immer nur der kleine Mann verlieren. Das war schon immer so.

 

17.1.1995

Was wäre denn passiert, wenn dieses Beben nicht nur Menschenopfer hätt` gewollt? Wenn es seine starken Hände nach einer ganzen Industrieregion hätt` ausgestreckt und richtig zugepackt? Dann wäre wohl jetzt nicht nur Japan völlig nackt, nein, auf lange Sicht wär` die ganze Menschheit so richtig angekackt, das ist Fakt.

 

Liebes Tagebuch 19.1.1995

Die Natur zu verändern, heißt noch lange nicht, sie zu beherrschen. Aber von der Natur abhängig zu sein, heißt sie zu schützen. Leider haben dies viel zu wenige verstanden und noch weniger leben danach. Unsere konsequente Unwissenheit wird uns unsere Existenzberechtigung auf diesem Planeten kosten. Welch ein Pech für das intelligenteste Wesen auf diesem Planeten - welch ein Glück für das Leben. Wäre die Menschheit allein auf der Welt, würde sie merken, daß sie allein nicht überlebensfähig wäre. Es wundert mich nicht mehr, daß ich lächeln muß, wenn ich mir vorstelle, daß wir es bald feststellen werden.

 

Liebes Tagebuch 17.2.1995

Major hat gestern die Versenkung der Bohrinsel genehmigt. Ein kurzes Zusammenzucken meines Gehirns verspürte ich. Hängt sie alle!! Doch was soll man denn nur dagegen machen? Mit welcher Ohnmacht die Menschen doch gestört ihr Leben vergeuden, um als Rädchen im großen System zu funktionieren. Jeder Sandkorn wird zermalmt. Ich will kein Rädchen sein!!!

 

Liebes Tagebuch 20.2.1995

Mir geht es im Prinzip gut. Bis auf ... . Doch den meisten Menschen dieser schlechten Welt geht es viel beschissener. Doch ich muß auf der Hut sein, die nächste Depression lauert bestimmt schon hinter der nächsten Ecke und verpaßt mir einen Tritt in die Hundert.

 

12.3.1995

Vergessen

Ein Volk wurd` einst tyrannisiert,

Musst` schuften jeden Tag,

Von schlechten Menschen dirigiert,

Ein jeder, bis ins Grab.

 

Ein junger Mann aus ihrem Kreis

Konnt` Menschen nicht mehr leiden seh`n,

Mit Zähnen scharf und weiß

Im Kampf blieb er als letzter steh`n.

 

Durch seinen Ruhm erging`s ihm gut,

Durch Wohlstand verlosch seine Glut,

Er war nun reich und brauchte nichts riskieren,

Als schlechte Menschen neu begannen zu regieren.

 

Scharfe Zähne fallen aus,

Zieht man ins Schloß - vom Armenhaus.

 

Liebes Tagebuch 23.3.1995

Ich mache meinen Job, füge mich problemlos in die Gesellschaft ein. Ich bereite mich darauf vor, einer der unzähligen lebenden Toten zu werden. Der immer weniger bereit ist, etwas zu riskieren, etwas verändern zu wollen. Ja ich gebe allmählich meine Träume und mein Ideal auf. Ich bin des Kämpfens in meinem Kopf müde. Das darf nicht sein! Wach auf!!! Nicht kampflos! Ich muß mich so gut wie irgend möglich gegen mich selbst verteidigen. Ich darf - kann nicht so werden, wie ich nie sein wollte!

 

Liebes Tagebuch 2.4.1995

Ich kann nicht sagen, daß mich dieses Leben besonders erbaut, doch es hat aufgehört mich zu erregen. Ich komme einfach so durch. Angst habe ich vergessen. Was bedeutet es denn? Zu lange habe ich mich vor zu vielen Dingen zu sehr gefürchtet, nun ist meine Furcht verbraucht, wie auch meine Freude am Leben. Angst, das Gegenteil von Mut, auch der ist mir entronnen. Wozu sollte ich ihn noch gebrauchen? Diese Eigenschaften fehlen mir nicht einmal. Wie sollten sie auch. Ich kann nichts vermissen, was ich nicht (mehr) kenne. Stadt der schwarzen Seelen, welch treffender Name für unsere Gesellschaft - dies System, schoß es mir gestern durch den Kopf. Doch ich habe Clara, meine Eltern und Freunde, gute Freunde. Schlechte Freunde gibt es nicht, das sind Feinde, denn es ist nur ein Wortspiel, wie unser Sein. Schade, daß mich nur so wenige verstehen. Welch Glück für die Schmarotzer.

 

Liebes Tagebuch 18.4.1995

Nichts überstürzen und doch alles leben. Erspar` mir, über den morgigen Tag nachzudenken. Heute leben und morgen ist nicht zu seh`n. Und sollte der Tag gekommen sein, an dem ich empfinde, daß es nichts mehr zu leben gibt, werde ich den Fluß überqueren. Das Universum hatte kein Anfang und wird kein Ende haben. Unser Sonnensystem ist nur ein kleiner Punkt in der Spirale der Milchstraße. Und unsere Milchstraße ist nur eine von unendlich vielen Milchstraßen. Und es ist unser Leben, unser Geist, unser primitives Vorstellungsvermögen welches uns diese Dimension einengt - die Freiheit raubt. In Billionen von Jahren wird niemand im Universum wissen, daß es je eine Erde gab, geschweige, daß es die Menschheit gegeben hat. Also was soll das ganze Geschrei, das Streben nach Macht, daß wir uns für, wie weiß ich, wie wichtig halten? Wir sind Nichts in der Weite der Zeit und des Raumes.

 

20.4.1995

ZEUS

Hast Du begriffen,

Warum ich Dich einst

An des Berges Felsen schlug?

Warum ich diesen,

Von Dir auch so

Geliebten Wesen,

Das göttlich Licht,

Nicht ohne Grund,

So lange vorenthielt?

 

Ich mein -

Sie doch selbst,

Wie sie sich Gegenseitig hassen.

Sollt` ich wirklich

Gnad` vor Recht

Hier gehen lassen?

Und das heilig Licht

Ihnen einfach überlassen?

 

Ich versteh`, daß Du,

Der sich zu ihnen

Ständig hingezogen fühlt,

Entzückt von ihrem Handeln,

Dem Drang,

Ihnen wohl zu dienen,

Getrieben vom

Titanenmitgefühl,

Ihnen jederzeit verpflichtet sahst.

 

Doch dann,

Es war mir einerlei,

Gab` ich Dich

Durch Herakles

Von Deinen Ketten frei.

Der Adler, so lang genährt

Von Deiner Leber,

Mußte sich

Nach einer and`ren schau`n.

 

Du hegst,

So kann ich

Deinen Worten

Wohl vertrauen,

Gegen mich

Schon lang mehr

Keinen Groll,

Bereust nun Deine Tat

Höchst würdevoll.

 

Genugtuung hab` ich

Schon vor langer Zeit

Bis zur Sättigung

Erhalten.

Als die Wesen

Mehr und mehr begingen

Sich in Ihren

Unkontrollierten Taten

Hoffnungslos verfingen.

 

Auch ich bin

Mit Dir im Reinem.

Doch irrtest Du,

Als Du glaubtest, daß ich

Auf ihre Opfer

Mit felsenfest Beharrlichkeit,

Des Betruges wegen,

Aus Zorn bestand.

Ihr Glaube war `s -

Und nicht mein Wunsch.

 

Liebes Tagebuch 8.5.1995

Ich wollte heute eigentlich zeitig ins Bett gehen, aber nach diesem anstrengenden Tag habe ich dann vergeblich versucht vor`m Fernseher abzuschalten. Als ich heute ganz allein auf meiner Wiese war, hatte ich wieder die verrücktesten Ideen. Ist schon komisch, es kommen einem die unmöglichsten Gedanken, wenn man allein nichts als Vögel und Wind hört. Gedankenketten, die nicht abreißen wollen balancieren zwischen Wahnsinn und Genialität. Ein unendliches Verlangen, alles was ich denk`, fühl`, hör` und seh` in Schrift, Bild und Ton festzuhalten überkommt mich. Doch der innere Faulsack läßt alles, was er nicht bereit ist festzuhalten, für immer in der Vergangenheit, in`s Vergessen verschwinden. Wo es für immer verloren ist. Alles ist Kunst, jeder ist Künstler. Ist es da nicht merkwürdig, daß nur sehr wenige Menschen davon leben können? Und dann sind es zum größten Teil auch noch die Künstler, deren Kunst nicht einmal besonders künstlerisch wertvoll ist. Der Mensch glaubt immer noch, daß er das intelligenteste Wesen auf der Welt sei. Denn Gott schuf ihn nach seinem Ebenbild. Alle Tiere haben ihren Gott, der sie nach seinem Ebenbild schuf. Doch sie behaupten nicht, daß sie die stärksten, schnellsten, dümmsten, kleinsten, größten wären, sie versuchen auch nicht die Natur zu beherrschen. Wieso eigentlich nicht? Sind sie vielleicht so intelligent, daß sie wissen, daß die Natur sich nicht beherrschen läßt? Wissen sie vielleicht, daß es einst die Dinosaurier auch probiert hatten, die Natur zu beherrschen? Sie scheinen zu wissen, daß eines Tages die Sonne nicht mehr scheinen wird und die Erde dann aufhören wird Leben auf sich zu beherbergen, doch bis dahin ist noch viel Zeit und deshalb genießen sie ihr Dasein. Der Mensch scheint das alles nicht zu wissen, und versucht mit einer noch nie da gewesenen Hartnäckigkeit die Erde noch vor dem natürlichen Ende zu vernichten. Welch lobenswerter Eifer, dieser intelligentesten Kreatur.

 

Liebes Tagebuch 15.5.1995

Jedesmal, wenn ich in den Spiegel schaue, frage ich mich immer und immer wieder: >Bin ich verrückt?<. Es gibt dann Augenblicke in denen ich mich nicht wiedererkenne. Schaue etliche Sekunden tief in meine Augen und entdecke nichts als unendliche Leere. Versinke in unendliche Dimensionen, die kein Ende nehmen wollen und die nicht zu beschreiben sind. Worin liegt der Sinn deines Lebens, schießt mir jedesmal neu durch den Kopf. All meine Probleme sind dann vergessen, wie ausgebrannt. Auf der Suche nach dem Sinn. Nichts auf der Welt ist dann in der Lage mich zu erfreuen, nichts stellt mich mehr zufrieden. Mein Kopf ist dann nur noch von der Sehnsucht erfüllt, die nicht gestillt, oder erfüllt werden kann.

 

Liebes Tagebuch 2.6.1995

Laßt mich gefälligst mit eurer Scheiße in ruh`! Mit den Problemen, die für mich keine sind. Welchen Sinn haben sie denn? Wenn ein Promi etwas dummes sagt - jeder redet Mißt, und Politiker werden dafür noch bezahlt. Wenn Flugzeuge in der Luft kollidieren - dann waren wohl zwei zu viel in der Luft. Wenn sich ständig Menschen in zu schnellen Autos totfahren - wir wollen sie doch so schnell. Wenn Lebensmittel nach nichts mehr schmecken - wir wollen sie doch unbegrenzt haltbar. Wenn die Meere von Öl ganz bedeckt sind - wenn es kein Benzin mehr gibt regt sich auch jeder auf. Wenn Tierseuchen flächendeckend zuschlagen - wir woll`n doch das Fleisch schön billig. Wenn Kinder vor Hunger krepieren - aber unseren Wohlstand wollen wir nicht aufgeben. Es ist mir alles so gleichgültig, die gesamte Weltsituation. Überall Naturzerstörung des Geldes wegen, obwohl alles anders gehen würde. Die unzähligen kleinen Kriege um Macht und Geld. Und immer wieder wirft sich mir die Frage auf: >Wieso soll ich eigentlich noch weiter leben?<. Um mitzuerleben, wie wir alle ganz langsam verrecken?

 

13.6.1995

Ende der Qualen

Du jämmerlicher Erdenwurm,

Beseit`gen werd` ich dich im Sturm.

Ich gab dir einst,

Was ich den ander`n vorenthielt.

Verändert hast du nun mein Bild.

 

Und wenn du meinst,

Mich dann auch noch verneinst,

So hast du nicht begriffen,

Du brauchst mich nicht,

So ist es deine Sicht.

 

Steuerst herum in Riffen,

Versuchst nicht sie zu umschiffen.

Den Spaß gönn` ich mir,

Ersaufen sollst du.

Und ich hab` meine Ruh`.

 

Viel zu groß ist deine Gier,

Drum geb` ich dir,

All die ganze Macht.

Mach`, was dir gefällt!

Es ist jetzt deine Welt.

 

Dies ist deine letzte Nacht.

Hör`! Der erste Balken kracht.

Es wird wieder sein wie einst.

Die Glocken läuten "Sturm",

Verschwunden bist du Erdenwurm.

 

Liebes Tagebuch 22.6.1995

Eben sah ich einen Bericht, ob es im Weltraum Leben geben könnte und über den Versuch Lebenszeichen zu empfangen. >Es ist doch lächerlich und zeigt doch unsere Primitivität< so schoß es mir durch den Kopf, als ich die Ängste einiger Wissenschaftler vernahm. Daß wir von einer intelligenteren Lebensform erobert, oder gar vernichtet werden könnten. Wie es in der Geschichte der Menschheit üblich war. Wie "weiter entwickelte Völker" primitivere unterdrückt oder ausgerottet haben. Diese Denkweisen basieren allein auf das "Ich-Denken", daß keine anderen Möglichkeiten zuläßt. Man geht nur von dem aus, was man selbst mit anderen Lebensformen anstellen würde, wenn man sie erst einmal in der menschlichen Gewalt hätte, daher ist es eine berechtigt Furcht der Menschheit. Ich will auf gar keinen Fall als Außerirdischer von der Menschheit entdeckt und erforscht werden. Wie die Menschen es ja auch mit allen Lebensformen dieser Erde getan haben und noch immer praktizieren. Diese Angst, daß die Außerirdischen das Gleiche mit uns machen könnten ist unbeschreiblich groß. Doch wer sagt denn, daß die Außerirdischen auch nur annähernd die schlechten, perversen, primitiven, egoistischen und machtsüchtigen Wesenszüge der Menschen haben müssen. Wenn es eine weitaus höher entwickelte Lebensform im Weltraum gibt als den Menschen, und daran glaube ich sehr, denn die Chance, daß es so ist, ist einfach zu groß, so ist diese Lebensform so weit gekommen, weil sie vernünftiger und friedlicher sein mußte als wir es sind. Ansonsten hätten diese Wesen im Laufe ihrer Entwicklung sich selbst vernichtet, so wie wir gerade dabei sind. Und daß sie uns aus sicherer Entfernung beobachten, den Kontakt zu uns vermeiden, weil sie wissen, daß wir noch nicht so weit sind, es vielleicht nie werden, um das alles zu versteh`n, halte ich für wahrscheinlicher als ihre Existenz zu bezweifeln.

 

Liebes Tagebuch 2.7.1995

Ihre Allmacht ist allgegenwärtig. Dieses Medium ist ein Fluch und auch ein Segen. Es informiert, unterhält, lügt und propagiert. Nicht ein Mensch ist vor der Gefahr sicher ihren Lügen entgehen zu können. Nur mit gesundem Menschenverstand ist man noch in der Lage mit grundlegender Skepsis ihren Informationen zu begegnen. Aber sie haben ihren Feldzug schon fast gewonnen. Von den Staaten ebbt eine Serie nach der anderen herüber, die nur dazu dienen, die Masse einzunebeln und in eine Traumwelt zu befördern, von dort nie mehr wegzulassen. Für die Intellektuellen und jene, die sich für solche halten, hat man etwas ganz besonderes hervorgezaubert - TALK-SHOWS. Sie haben die selben Aufgaben wie die Serien, nur daß man nun auch die Menschen hypnotisieren und gefügig machen kann, die bis vor kurzem noch alleine denken konnten. Sport ist nur noch eine einzige Werbeveranstaltung in der die Sportler für irgendein Produkt werben müssen und dazu noch erster werden sollen, damit man weiß, daß der Sportler es nur durch dieses oder jenes Produkt geschafft hat. Der sportliche Geist ist out. Trend-Sportarten sind in, sie werden jedes zweite Jahr von neuen abgelöst, damit es für die sportliche Jugend nicht langweilig wird und immer schön kaufgefügig bleibt. Kinder und Jugendliche, ein riesiger Absatzmarkt wartet darauf kommerziell erschlossen zu werden bis in den kleinsten Winkel. Egal wieviel Sinn in der Musik, Mode, Bewegung steckt - geil muß sie sein, und sie muß sich vermarkten lassen, und sie muß einlullen können, die drei Hauptfaktoren sind der Maßstab an dem jedes neue Produkt gemessen werden muß, um auch im harten Markt bestehen zu können. Ein Joghurt für Kinder muß nicht unbedingt gesund sein und schmecken, das ist alles gar nicht nötig, so lange die Verpackung bunt ist, man den Kindern, aber auch den Eltern das Gold des Salomons verspricht. Wie oft war ich schon kurz davor in die Kiste zu springen und alle abzumurksen.

 

10.8.1995

Mensch zu Lamm

Kommt! und laßt uns unser`n Herrn jetzt preisen.

Was willst du haben, was soll er kosten?

So viel, für diesen Greisen,

ach, laß ihn steh`n, er soll verrosten.

 

Gottes höchsten Boten, sah ich den Boden küssen

Und glaubte, der steht nie wieder auf.

Alz` Eimer hat er - kein Wissen,

Es wär` wohl besser, wenn ihr `nen neuen Boten kauft.

 

So alt wie der zu seien scheint,

Kein Mensch auf dieser Welt doch wird,

Das Leben ständig nur verneint,

Hoffnung - daß bald sein Aberglaube mit ihm stirbt.

 

Und all die and`ren Glaubenstheorien,

Deren Sinn ich kann versteh`n,

Dienen der Erhaltung einer Macht,

Mit der man Menschen zu Lämmern macht.

 

Liebes Tagebuch 29.8.1995

Nein ich stecke in keiner Depression, ich weiß nur nicht ob ich überhaupt noch weiter leben will. Aber irgendwie ist es noch nicht so weit. Ich werde es spüren, wenn es so weit ist. Jetzt wünschte ich mir, daß ich in Kanada im Wald in einer Blockhütte wohnen würde und alle bösen Menschen wären beseitigt. Den Vögeln würde ich zuhören, was sie zu sagen und zu singen hätten.

 

Liebes Tagebuch 4.9.1995

Ich bin ein Uranatom in einem Reaktor und werde gespalten. Fliege durch einen nicht endenden Tunnel aus Licht und morgen werde ich ein Wasserstoffatom sein. Werde mich in den Wolken befinden und um die Erde schweben. Vielleicht werde ich ins Weltall entweichen, oder mich mit drei Sauerstoffatomen verbinden, oder nur mit Zweien. Verstehe, warum wir alle eines Tages auf die Reise zu gehen haben werden. Es wäre schön, wenn ich kein Mensch wäre. Es wäre schön, wenn ich kein Lebewesen von dieser Welt wäre. Es wäre schön, wenn ich tiefgefroren im Weltraum schweben würde. Dann müßte ich nicht das Leid dieses Lebens ertragen. Wenn es dunkel wird, werde ich fliegen, kein menschliches Problem kann mich dann mehr belasten, nicht einmal mein eigenes.

 

Liebes Tagebuch 18.9.1995

Ich würde viel zu gern meinen Weg beenden, doch die Zeit ist noch nicht gekommen. Vielleicht denke ich momentan nicht so intensiv nach und suche nicht nach dem Sinn des Lebens, wie ich es immer und immer wieder getan habe. Ich habe das Gefühl, daß alles - das ganze Leben nur ein Traum ist. Vielleicht fühle ich mich deshalb zur Zeit so sicher, weil ich weiß, daß mir nichts böses widerfahren wird, weil ich vorher aufwachen werde und feststellen werde, daß ich eigentlich gar kein Mensch bin und mich somit nicht ihren beknackten Regeln unterwerfen muß. Denn ich bin ein Stern neben unzähligen anderen und befinde mich irgendwo im Weltraum. Niemand schreibt mir vor, wie ich mich als Stern zu verhalten hab`. Oder ich erwache und hebe ab, stelle fest, daß ich nur ein Geist bin und alles aus der fünften Dimension betrachte, wie durch eine gewölbte Milchscheibe. Niemand nimmt mich wahr und niemand kann mir etwas anhaben. Wie ich eine unendliche Straße entlanggehe treffe ich Gott und pinkle ihn an, danach treffe ich noch die anderen Götter, die ich auch anpinkle. Sie werden mich dann als ihren obersten Pinkelgott akzeptieren. Dann herrscht unter den Göttern Anarchie. Sie merken, daß das ganz toll ist und sie lieben dann einander, anstatt sich zu bekriegen. Dann wird alles zu Nichts, das ist etwas, was sich nicht mit Worten beschreiben läßt. Genauso, wie man den Vorgang und dessen erlösende Wirkung, wenn man im freien Fall der Sonne entgegen steuert, die nicht existiert, nicht beschreiben kann. Man fällt und fällt, doch das Licht bleibt unerreichbar und doch so greifbar nah. Den Frieden in Kopf und Körper. Alles ist Illusion. Doch das wichtigste im Leben ist der Tod, denn alles Leben läuft auf ihn hinaus.

 

Liebes Tagebuch 6.10.1995

Das Tor zu meinem Unterbewußtsein ist noch verschlossen. Den Schlüssel, der es öffnen wird, werde ich finden, denn er existiert. Niemand soll denken, daß ich verrückt bin, sie sollen es alle wissen, wenn es so ist. Denn alle sind verrückt. Normalität existiert nicht. Träume, Illusionen und Phantasien beherrschen das Denken des Sklaven oder die wir Arbeitnehmer nennen, auch wenn sie es sind, die ihre Arbeitskraft geben. Betrachte ich mich im Spiegel, sehe ich alles mögliche, nur nicht die Vernunft. Was ist Vernunft? Doch nur ein Wort der Unterdrücker. Was sagt es aus? Arbeite für mich! Mir sagt es nichts.

 

Liebes Tagebuch 15.10.1995

Wenn ich erfahren würde, daß ich nur noch wenige Tage zu leben hätte, würde ich zusehen, daß ich unzählige von den Schmarotzern dieser Welt mit mir nehmen könnte. Aber auch diese Aktion wäre nur ein Tropfen auf den sprichwörtlich heißen Stein. Und dann?

 

Liebes Tagebuch 16.10.1995

Ich bin noch eine Woche krankgeschrieben. Ich habe kein schlechtes Gewissen irgend jemanden gegenüber. Es geht mir zwar schon wieder so gut, daß ich arbeiten gehen könnte, aber richtig gesund bin ich noch nicht. Außerdem braucht niemand in dieser ungerechten Gesellschaft ein schlechtes Gewissen zu haben, denn das System geht davon aus, daß jeder schlecht ist und bescheißt. Das gilt doch für Personen und Gruppen gleichermaßen. Und in diesem Augenblick wird mir wieder mal bewußt, daß wir doch selber schuld sind, wenn wir uns ehrlich verhalten. Sie zwingen uns doch ihre Spielregeln auf. Nur wer bescheißt kommt auf Los, wer ehrlich bleibt in den Knast oder muß eine Runde nach der anderen aussetzen. Wer das nicht kapiert fliegt raus und verliert. So einfach ist das. Jegliche Hoffnung auf Vernunft, Intelligenz, Verantwortung und Rücksicht haben sie mir geraubt. Einfach eingetreten mein Kartenhaus. Die Lust, ein neues aufzubauen ist mir vergangen. Damit sie es wieder eintreten können?!

 

Liebes Tagebuch 22.10.1995

Vor einer Stunde war ich so niedergeschlagen und von Haß erfüllt. Warum weiß ich auch nicht. Es kam einfach von innen, ohne Vorankündigung. Die depressivsten Sachen und Gedanken schossen mir durch den Kopf. Ich hatte große Lust gehabt, in irgendeinen Porzellanladen zu gehen und alles kurz und klein zu schlagen. Obwohl meine größte Verachtung der Menschheit gilt, weil sie alles, was wir zum Leben brauchen, zerstört, richteten sich meine Aggressionen in keiner Sekunde gegen einen Menschen. Komisch, so schnell wie sie kamen, waren sie auch wieder verschwunden.

 

Liebes Tagebuch 24.10.1995

Es war ein Graus, diese Fahrt von B. nach Haus. Sassen doch glatt zwei Oberb.-er, was man unschwer an ihrem Benehmen, Aussehen und ihrer Mundart erkennen konnte, hinter mir. Der eine trug teure Hosen aus Seide mit Bügelfalten und einen Kaschmir-Rolli, um seinen Hals, über dem Rollkragen, ein dickes Kettchen aus Gold, so wie das Kreuz, das daran hing, und mittendrauf ein Diamant. Seine Slipper waren schwarz, wie auch seine Hosen. Sein Gesicht war krankhaftfalten-braun, von übermäßiger Höhensonne. Den anderen habe ich zu meinem Glück nicht auch noch sehen müssen, doch leider waren diese beiden, mir zum Leid, nicht zu überhören. Ihre Äußerungen waren so arrogant, anmaßend und dumm zu gleich, daß ich am liebsten zu Brüllen begonnen hätte, daß sie taub für immer wären. >Diese Schmierfinken gehören ins Gefängnis gesteckt! Das soll Kunst sein, in dem sie Züge und Wände mit ihren Kritzeleien verunstalten und somit Erregung öffentlichen Ärgernisses verursachen. / Und der Wirtschaft geht es nur deshalb so schlecht, weil die Gewerkschaften viel zu viel Einfluß haben. Wegen denen gibt es auch die vielen Arbeitslosen. Man sollte die Gewerkschaften abschaffen und verbieten. Die Japaner und die Amis machen es uns doch vor. Und überhaupt ist an der ganzen Miesere die Wende schuld. Was hat uns denn die Wende gebracht? Außer Kosten ja wohl nichts. Seit ihr dürfen wir die ostdeutschen Faulpelze durchfüttern. Wäre die Wende nicht gekommen, so wären wir wirtschaftlich schon längst an den Amis vorbeigezogen.< So schwankte ich zwischen Zorn und Mitleid. Wie blind, vom Wohlstand und Luxus geblendet, wie dumm, daß man das Denken verlernt und die Wahrheit nicht mehr erkennen kann, wie gefühllos, daß man schlecht über Menschen redet, die man gar nicht kennt und die Gründe ihres Schicksals gar nicht weiß, wie blind, dumm und kalt muß ein Mensch doch sein, um so viel geistigen Giftmüll in seinem Kopf zu deponieren? Und warum werden Menschen so? Und von denen gibt es so viele, daß ich Angst vor ihnen habe. Und meine Angst wird immer größer.

 

 

 

Auswahl

 

letzte Bearbeitung: 29.01.2012 Literatur Dramen Kontakt: Ray Helming