Aus den Tagebüchern zweier Lebender

 

Zweites Kapitel

4.10.1990

Voll Stolz schaut der dicke Mann auf sein schönstes Werk. Hat er`s denn nicht fast allein vollbracht? Und setzte sich nun ein Denkmal schon zu Lebenszeiten. Die bunten Bilder von Glück und Tränen, wie schnell sie über`n Bildschirm huschen. Doch was sieht mein Ohr, was hört mein Aug`? Die Hymne ist`s, gesungen von gar stolzen Burschen, gar prächtig anzuschau`n, und heben ihren Arm, ihrem Gott zum Gruße. Ach wenn der des noch seh`n könnt. Auch ihm würd` eine Träne, vielleicht auch Rotz, über seinen Schnurrbart fließen. Und in meinem Kopf, da wird mir hell, holt uns doch nicht uns`re Vergangenheit mehr ein, wo uns uns`re Zukunft g`rade überholt. Und aus bösen Ecken hör` ich, noch ganz leis`, die Grenz` von einst, soll es wieder sein!

 

Liebes Tagebuch 28.11.1990

Man legen die ein Tempo hin. Im ganzen Schulstress bekomme ich gar nicht recht mit, wie die Zeit vergeht. Eigentlich hatte ich mir für dieses Schuljahr vorgenommen, mich nicht mehr so einzukapseln und mehr unter Leute zu gehen, aber bei den Anforderungen in der Schule, kann ich ja gar nichts dagegen machen. Ich merke aber, wie ich mich langsam an das Arbeitstempo gewöhne, und auch an den Schwierigkeitsgraden. Bert hat mich am Samstag zu seiner Geburtstagsfeier eingeladen. Ich geh auf jeden Fall hin. Ist es doch eine hervorragende Möglichkeit mal unter Leute zu kommen und den Alltag zu vergessen. Obwohl ich ja von dem ganzen Feierquatsch nichts halte, ob nun Weihnachten, Ostern, oder Geburtstage, es sind doch Tage wie alle anderen. Mir egal, ich geh` hin.

 

Liebes Tagebuch 2.12.1990

Unzählige Liebesquellen entsprangen gestern meinem Herzen und sie wachsen an zu großen Strömen. Ich kann nicht sagen, was mir wirklich widerfuhr, war ich doch gleich, als ich sie sah, im Geiste toll. Meine Augen hingen an ihr`m Gesicht und konnten ihr nicht eine Sekunde Pause gönnen. Je länger ich sie sah, je größer wurd` mein Herz, und ich wünsch` mir nicht nur jetzt, in diesem Augenblick, viel mehr für meine Ewigkeit, sie auf meinem Herzen durch die Welt zu tragen. So war`n mir Sterne, in ihrer klaren Nacht, meine Zeugen, als ich unter ihrem Schutz nach Hause ging und mir, nur für sie, dem göttlich Wesen, die ewig Liebe schwor, daß ich kein and`res Aphroditenkind mehr den Zugang meines Herzens zeig`. Es war wie im Film. Ich ging zu Bert. Vor der Haustür hörte ich, daß die Feier schon im vollen Gange war. Bert machte mir auf und die Bude war rappelvoll. Seine Mutter kam neugierig aus der Küche und ich stellte mich vor. "Endlich mal ein junger Mann mit Anstand." sagte sie. Ich schaute sie herzlich an und ging mit Bert ins Wohnzimmer, wo an die zehn Leute abhingen und in kleinen Grüppchen smalltalkten. Da klingelte es wieder, er meinte nur noch: "Ich geb` dich erst mal bei meiner Schwester ab." und rief Clara. Ich schaute mir gerade die Wohnung an, wie ich Bert hinter mir höre: "Das ist meine Abschlußversicherung für die nächsten zwei Jahre, er heißt Mario, sei sehr nett zu ihm!" und eine sirenenhafte Stimme antwortete: "Ja Brüderchen, wenn du mich so nett bittest, muß er dir ja wirklich am Herzen liegen." Wie ich mich umdrehe, trifft mich der Schlag und der ganze Abend zieht wie ein Traum an mir vorbei. Alles um mich herum bewegte sich, als würden wir uns auf dem Mond befinden. Ich redete den ganzen Abend mit ihr und ließ sie nicht eine Sekunde von meiner Seite, außer wenn einer von uns auf`s Klo mußte. Über was wir uns unterhalten haben, weiß ich nicht mehr. Genauso wenig kann ich mich an die anderen Gestalten erinnern.

 

2.12.1990

Meines Bruders Abschlußversicherung, keine Sekunde wich er mir von meiner Seite. Wären seine Augen Fresswerkzeuge, ich wär` seit gestern nicht mehr auf der Welt. Doch er ist sehr nett, auch wenn sein Außenbild kein Preis gewinnen wird, so ist sein Gesicht, um so mehr, von Charakterstärke tief geprägt.

 

3.12.1990

Schwarz ist das Tuch, daß sich über Deutschland legt. Seit gestern ist das Kreuz der Christenheit, das Schwert das über Ordnung wacht, die Waage der Gerechtigkeit, der Streichholz der zur Lunte führt.

 

Liebes Tagebuch 6.12.1990

Bert hat mich schon die ganze Woche komisch angesehen. Und heute rückte er mit der Sprache raus. Er hat ja recht, daß, wenn es mich so erwischt hat, ich mich bei ihr melden sollt`, letzten Endes ist es ja auch seine Schuld. Doch kann ja niemand was für sein Familienkreis. Ich tät` ihm leid, er könnt` es nicht mehr seh`n, wie ich in Gedanken ganz woanders bin, doch daß es ausgerechnet seine Schwester sein muß, ist ihm zu hoch.

 

Liebes Tagebuch 7.12.1990

Ich nahm heut` meinen ganzen Mut zusammen und hab` sie aus der Zelle angerufen. Meine Knie waren nicht mehr mein, mein Puls trieb mein Blut in Lichtgeschwindigkeit durch meine Adern und kein Wort wollte meinem Mund entweichen, als ich ihre Stimme hörte. Sie wäre dumm, hätte sie es nicht bemerkt, doch sie ließ, mit Rücksicht auf mich, sich nichts anmerken. Und ich bekam von ihr ein "Ja - Vielleicht" für ein Wiederseh`n. Das "Vielleicht" hab` ich nicht für voll empfunden, so glaub` ich fast, daß sie mich auch zu sehen wünscht`. Nun schau sich einer meinen neuen Stil, den ich von Faust erhalten, voll Fragen an! Wir sind noch nicht sehr weit gekommen und werden noch viel Zeit verbrauchen, um Goethes Werk mit staunend Augen an zu seh`n. Bert meint, daß ich, seit seiner Feier, wie ein Poet durch`s Leben schweb`, mit dem Nachteil, ich sei in die falsche Zeit geraten, verstärkt wird das durch Faust. In seinen Augen ist es Müll, Dreck, wieso man sowas schreiben kann, wie keiner spricht, ist ihm ein Rätsel, dessen Lösung er nicht wissen will.

 

7.12.1990

So ist es, wie ich`s mir gedacht, der Kleine meine Nähe sucht. Nun gut, so soll er um sie ringen. Bin ich ihm doch nicht abgeneigt, doch ohne Kampf wird er mich nicht bekommen.

 

12.12.1990

Er hat sich bis jetzt noch nicht getraut, ein zweites Mal bei mir zu melden. Sollte er wirklich noch so schüchtern sein? Ich kann es fast nicht glauben. So muß ich ihm ein Zeichen geben, daß er nicht ganz den Mut verliert. Welches nur der versteht, der`s ehrlich meint.

 

Liebes Tagebuch 13.12.1990

Von Bert erfuhr ich heute, daß seine Schwester krank ist. Er meint`, daß sie simuliere. Ich weiß nicht, ob ich mal vorbei schau`n sollte? Nachher ist es ihr nicht recht, vielleicht will sie es aber und freut sich über meinen Besuch?

Ich war bei ihr. Es fehlen mir die Worte, um zu beschreiben, wie es mir geht. Fixe Gedanken schnellen durch mein Hirn und ich verspüre endloses Verlangen, jede mir noch bleibende Minute, an ihrer Seite zu verbringen. Ich war so aufgeregt, daß ich nur wirres Zeug geredet haben muß. Bert öffnete mir die Tür mit einem dreckigen Grinsen und ich war entlarvt, nichts ging mehr.

 

Liebes Tagebuch 23.12.1990

Erst jetzt, wo ich den "Fixer" von Bernard Malamud gelesen hab`, wird mir bewußt, was ich schon immer wußte, aber nie beachtet hatte. Die Nazis waren nicht die ersten Judenfeinde, die Pogrome durchgeführt haben, sie haben "nur" den ganzen Scheiß bis zur Perfektion getrieben, es gab sie ja schon viel früher, die Pogrome. Schon im Mittelalter. Dieses Buch löste in meinem Kopf ein Dominoeffekt aus. Die letzte und alles aussagende Frage ist: Warum werden die Juden gehaßt? Sie werden gehaßt, weil ein Jude einen anderen Juden, welcher der Sohn Gottes gewesen sein soll, an die Römer verraten haben soll. Aus diesem Grund wurden alle Juden gehaßt und heute noch wie vor fünfzig Jahren. Also ist in meinen Augen nicht der ausführende Mob der Keim des Bösen, er ist nur das Werkzeug, weil er nicht denken kann, sondern die christliche Religion, sie allein macht die Juden naß, weil einer von ihren Vorfahren einen anderen von ihren Vorfahren, die aber beide nicht existiert haben, verraten haben soll. So mußten Millionen von Menschen, die Juden waren, ihr Leben lassen, weil so ein beknackter Kunde irgendwann die Geschichte von dem Sohn Gottes erfand, andere merkten, daß man damit andere unterdrücken und wieder andere ausbeuten konnte, und die Geschichte ausbauten, und zweihundert Jahre nachdem die Story geschehen sein sollte, klaute man von vielen anderen Religionen, daß was man ganz brauchbar fand und schrieb den Mist als Buch und nannten es die Bibel.

 

25.12.1990

Er kommt immer dann, wenn Albert fehlt. Er kommt ja nicht zu mir, er will ja zu ihm. Doch so lang` er nicht kommt, verweilt er bei mir. Er ist so unbeholfen süß. Und glaubt, daß ich ihn nicht durchschau, und hofft und weiß das Gegenteil.

 

Liebes Tagebuch 15.1.1991

Wenn mein Mut doch reichen würde, ich würd` ihr all mein Fühlen zu ihren Füßen legen. Daß sie`s weiß, ist mir bewußt, doch sie will von mir erobert werden. Doch nicht so, wie es die Machos machen, sie ist ein Wunder von Geschöpf, welches verzaubert werden will. Ich kann anstellen, was ich will, Fausten`s Redensart hat mich ergriffen. Welch ein Glück, daß es zum Ausbruch kommt, wenn ich im Schreiben bin, und nicht im Dialog mit Menschen in gesprochen Wort. Ich schäm` mich nicht dafür, ist es doch Ausdruck von klugen Geist. Nur würden die Menschen mich so reden hör`n, verstehen würden sie kein Wort.

 

Liebes Tagebuch 17.1.1991

Ich bin mir nun so sicher. Wenn es wirklich eine Liebe gibt, dann liebe ich mit allen Sinnen. Vielleicht werd` ich es in ein paar Jahren anders sehen. Aber es ist nicht ausschlaggebend was sein wird. Es zählt nur das Jetzt. Jeden Moment ein neues Hochgefühl. Die Zukunft verändert sich von Sekunde zu Sekunde, und ist noch nicht geschrieben. Und wenn ich jetzt, in diesem Augenblick, der schon seit Wochen anhält, das riesenhafte Bedürfnis verspüre mein restliches Leben nur noch an ihrer Seite sein zu wollen, seit Tagen nicht mehr schlafen kann, den Tag damit zubring`, in Gedanken mit ihr zu wandeln, so ist es aller höchste Zeit, diesen Tatsachen die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken. Denn meine wahnsinnige Sehnsucht nach Clara beschränkt sich doch nicht nur auf das reine Verlangen nach sexueller Befriedigung mit ihr, auch wenn es die Natur des Menschen ist. Vielmehr ist es ihre Gegenwart, die Nähe, ihr Geruch, der Duft, ihre Sprache, der Klang, ihr Verhalten, die Art, ihre Weisheit, das Verständnis für das ich mich an Mephisto verkaufen würde. Doch weiß sie denn von alledem, und fühlt sie genauso für mich? Ach, wenn ich das nur wüßt`. Also bleibt mir nichts als die Ungewißheit. Entweder, oder. Doch das Gefühl bleibt.

 

18.1.1991

Der Wüstensturm hat schon begonnen, das er den bösen Erdausbeuter zurück in sein eigen Land vertreibe. Damit der rechtens alte Beuter wieder friedlich beuten kann. Die selbst ernannte Weltenpolizei, von Anfang an dabei, um ihre Herrschaft wohl besorgt, denn nur wo Frieden kontrollierbar ist, bringt friedliche Kontrolle den Herrschenden die größte Beute, ohne selbst dabei zur selbigen zu werden.

 

7.2.1991

Wie anders hätt` es kommen sollen, als so, wie es eben nun geschah. Vorhersehbar und nicht ausweichlich, war es doch von ihm und noch viel mehr von mir gewollt. Im Zauber von dichtem Flockennebel eingeschlossen, Dunkelheit, die durch das Treiben helle wurde, Wärme die durch uns`re Nähe Nahrung fand. Berührten seine, oder waren`s meine, die den Weg zu seinen suchten? Magisch angezogen wurden beide voneinander. Das erste Mal, daß uns`re Augen ineinander griffen und im selben Augenblick das Beben unter unsren Füßen fühlten, wissend, daß es kein Ende gibt.

 

Liebes Tagebuch 8.2.1991

Ich bin der glücklichste Mensch, der je auf dieser Welt, das Leben leben durfte. Und gestern nahm ich all mein Mut zusammen, sie kam mir nicht zuvor, doch aber weit entgegen, als ich nicht nur ihre Hand ergriff, sondern ihr Gesicht berühren durfte, wie sie meins. Lange, ohne ein Wort, was nur den Augenblick zerstören konnte, zu sprechen, sahen unsere Augen tief in sich, fanden nichts als die reinste Liebe zueinander. Und es war das erste Mal, als Schnee so dicht vom Himmel fiel und der eine wie der and`re, die Liebe durch den Mund des anderen empfand.

 

Liebes Tagebuch 12.2.1991

Die Cholera ist in Südamerika so stark ausgebrochen, daß ich meinen möchte, daß sich die Natur an uns Menschen rächt. Nur leider wieder an den Armen, die eh am meisten zu leiden haben. Ich kann es nicht ertragen, zu wissen, daß sie sterben müssen, weil andere das Geld, welches ihnen helfen könnte, für ihren Luxus horten.

 

Liebes Tagebuch 23.2.1991

Es ist jetzt eine Woche so, daß wir uns täglich sehen. Mal kurz, mal lang. Von allen lieben Wesen dieser Welt, so kann ich von mir behaupten, daß ich das große Glück auf Erden hab`, denn ist mir doch das liebste Wesen von Zauberhand gegeben worden.

 

1.3.1991

Der Sturm gewann, Gerechtigkeit kann nun wieder gerichtet werden. Die Wüste lebt, auch wenn es nur siebenhundert Feuerquellen sind, die den Eindruck wecken. Öl ist kostbar, für die die es besitzen - daran verdienen.

 

Liebes Tagebuch 4.3.1991

Bert hat sich heute mit unserer Deutschlehrerin angelegt. Er könne nicht begreifen, worin der Wert des Schreibens in Versen liege. Ich kann ihn nicht verstehen. Er hat eine Abneigung allen Dingen der Kunst gegenüber. Malerei, Musik, Literatur sind doch nicht wertvoll in seinen Augen. Wie kann ein Bild, das uralt ist, über eine Millionen Mark kosten. Ein Auto, ein Flugzeug, das sind wertvolle Dinge, Gold, Edelsteine. Ich kann seinen Gedanken nicht folgen, ich will es erst gar nicht. Natur und Umwelt ist in seinen Augen dazu da, daß man sie zum eigenem Nutzen verändert und ausbeutet. Menschen, die sich Sorgen um die Zukunft machen, unterscheidet er in Realisten, die sich um die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung kümmern, und Traumtänzer, die sich mit Umweltschutz beschäftigen. Woher er diese Lebensauffassung hat, ist mir unklar. Überhaupt, wie man zu solch einer Einstellung gelangt, ist mir ein Rätsel. Doch das Erschreckende dabei, es gibt so viele, die so denken wie er.

 

28.3.1991

So kalt es war,

So warm es wird,

Ob Regen fällt,

Ob Sonne scheint,

Ob Wiesen blühen,

Ob Blätter welken,

Es liegt an uns,

Das Leben

Schön zu finden,

Zu nehmen

Wie`s von Natur gegeben,

Mit meinem Mio

Ging ich durch die

Erwachende Natur,

Was wir erhielten,

War Leben pur.

 

Liebes Tagebuch 14.4.1991

Letzte Nacht schlief Clara zum ersten Mal bei mir. Es war das erste Mal, daß ich mit ihr gemeinsam eine Nacht verbrachte. Ich fühle mich so frisch verliebt, so liebestoll. Ich könnte jede Nacht in ihren Armen friedlich geborgen wie ein Kind, die dunkle Nacht empfangen und sicher in den Schlaf entweichen. Am Morgen, wie ich ihre Wärme, ihre Nähe spürte, kamen Wellen höchsten Glückes über mich. Sie schlief noch tief und ich nahm sie ganz fest in meine Arme, stellte mir vor, daß ich sie nie mehr loslassen müßte, könnte.

 

Liebes Tagebuch 30.4.1991

Wir sind so satt, all der Überfluß läßt uns über die Qualen, die über Bangladesch hereingebrochen sind, nüchtern und kalt hinwegsehen. Ein kurzes Innehalten beim Abendbrot, wenn die Bilder über die Kiste flimmern, doch kommt der Umschnitt, wird weiter gefressen. Es schmerzt so sehr, und dies nicht nur, weil alle so sind, nein, weil auch ich durch sie so geworden bin. Würde eine nichtige Figur, aus ihrer Glimmerwelt, aus irgend so`nem Königshaus, durch Tod herausgerissen. Ein ganzes Volk würd` Trauer tragen. Was sind da schon dreihunderttausend tote Kulis.

 

Liebes Tagebuch 3.5.1991

Hätt` ich meine Clara nicht, ich würd` vor Schmerz zu Grunde gehen. All das Übel, all das Elend dieser Welt. Die Natur kann mit ihren Wundern nicht meine Wunden so schnell heilen, wie sie von der Gesellschaft in mein Herz gerissen werden. Seh` ich einen Regenbogen, werden zur selben Zeit hundert Opfer den Großen dargebracht - ein kleines Pflaster für einen amputierten Arm. Das kann nicht reichen!

 

Liebes Tagebuch 30.5.1991

Heute wird Clara zwanzig und ich habe kein Geschenk. Wir haben uns noch nie so richtig über Geburtstage unterhalten. Ich mein`, ich bin mir sicher, daß sie mich versteht, wenn sie nicht sogar meine Meinung teilt. Für Kinder mag ja so`n Geburtstag was feines sein, zudem man seine Freunde einladen kann, doch wenn man älter wird? Es ist doch total idiotisch einen Tag zu feiern, der täglich stattfindet. Das Älterwerden. Zudem hab` ich solche Geburtstagsfeiern als Kind bei meiner Tante erlebt. Ich bin froh, daß ich diese Einstellung hab`. Überhaupt ist doch dieses Schenken auf Krampf ein armselig` Schaffen. Weil es so Tradition ist, muß man sich irgend einen Scheiß aus den Rippen leiern, um es seinen nächsten Verwandten zu schenken, der sich natürlich wahnsinnig über das Geschenk freut und einen Tag später entsorgen wird. Mit dem Ergebnis, ich habe überflüssiges Geld entsorgt, Unmengen von guten Ideen verloren, und wertvolle Zeit vergeudet. Wenn mir jemand am Herzen liegt, zeige ich es ihm jederzeit mit einer kleinen Aufmerksamkeit, oder einer größeren, und brauch` dafür nicht so`n albernen Anlaß. Nun bin ich in der misslichen Lage, daß ich ihr zu verstehen geben will, ich haben ihren Geburtstag nicht vergessen. Hab` ich ja auch nicht! Doch dann brech` ich mit meinen Prinzipien. Doch was sind denn überhaupt Prinzipien, wem nützen sie denn? Mir nicht, also laß ich den Quatsch von den Prinzipien, gratuliere ihr, basta.

 

31.5.1991

Ach mein Mio, wenn doch nur alle Menschen, so lieb und süß, so unbeholfen sich den Liebsten gegenüber nett verhalten würden. Vorbei wär`s dann mit Haß und Streitereien. Verleg`ne Röte schoß in dein Gesicht, wie du mich in deine Arme hastig nahmst und ich leise deinen gehauchten Geburtstagswunsch in meinem Ohr stolpernd vernahm, keine Spur von Schauspielerei, wie man sie an allen Orten sieht. Auch dein Zittern war so echt und rein, wie es nur eine Liebe vermag zu sein.

 

Liebes Tagebuch 16.6.1991

Im Juli fahre ich mit meiner Clara an die Ostsee. Rötschels luden uns beide ein, und Clara hat zu diesem Zeitpunkt sowieso Urlaub. Ich bin so glücklich über den Besuch. Freu` mich riesig auf unseren ersten gemeinsamen Urlaub. Es ist etwas Greifbares, daß die Schule einfach schneller vergehen läßt. Eigentlich bin ich ja in Gedanken schon lange mit ihr dort, wie in unserem eigenem Film, oder mehr wie in unserem Traum? Ich sehe uns beide am Strand im Sand liegen und alle Sorgen die uns belasten vergessen, den Sonnenuntergang beobachten.

 

21.6.1991

Einem solchen großen Staat, so mächtig und zentral gelegen, gebührt eine große weltberühmte Stadt, als Sitz zum Regieren und Präsentieren. Dafür ist Bonn doch viel zu klein, Berlin, ja Berlin soll neue Hauptstadt sein. Wann, wann geht der Umzug los? Heute! Und in zehn Jahren ist es vollbracht. Die paar Mark, die da verschwinden, wer will sich daran stoßen? Wir alle woll`n doch Berlin. Ich warte schon, daß zum Jahrestag unter den Linden, durch das Brandenburger Tor, Soldaten marschierend zieh`n. Am Arm tragen sie rote Binden mit schwarzem Kreuz auf weißem Kreis. Dann weiß ich, was zu machen ist.

 

Liebes Tagebuch 23.6.1991

Wie armselig sind doch wir Menschen. Ich mein`, schau` ich mich um, dann seh` ich doch nichts als Arbeit hier, Arbeit dort und dabei ist immer dieses lange Gesicht. Sie sind unzufrieden und doch unfähig etwas zu ändern. Wie Versuchstiere. Sie lassen diesen Mühlstein der gesellschaftlichen Moral - füge dich ein, ordne dich ein, ordne dich unter, unterwerfe dich - über ihren Rücken rollen und unternehmen einfach nichts, vergessen das Leben, weil sie`s im Fernseh`n ja zeigen, da braucht man ja gar nicht selbst zu leben. Erwacht aus eu`rem Koma, ihr verfluchten Zombies!

 

Liebes Tagebuch 28.6.1991

Somalia-Witze sind ganz groß im Kommen. Auch eine Art von Einstellung kund zu geben, doch nicht meine. Ein ganz wenig zu flach in meinen Augen. Sicher, ich verachte sie aus tiefsten Inneren. Ich würde so`n Ding niemals in den Mund nehmen. Wenn ich sie aber höre, über ein paar muß ich hin und wieder doch lachen, laß es aber niemanden merken, kann ja nichts dafür, wenn jemand meine gebildete Naivität ausnutzt und mich zum Lachen bringt. Clara hat eine seltsame Einstellung, den Problemen gegenüber. Sie sieht überall nur das Schlechte, das aber so konsequent, daß es realistisch wirkt. Oder ist es denn wirklich so hoffnungslos um uns bestellt? Der Krieg in Somalia, er hebt sie nicht an. Sie meint, wozu - es ist eh immer und überall das Selbe. Die Bösen sind die großen Hintermänner, die am Tod Macht und Reichtum verdienen, der kleine Mann riskiert seinen Arsch und verliert seinen Kopf, die Kinder, Frauen und Alten sind die wahren Verlierer, weil sie in der übrigen Scheiße schwimmen müssen und diese dann beseitigen dürfen, falls sie`s überleben. Die Politiker geben zu, daß sie dies alles kennen, beteuern, daß sie nichts machen können, was sie nicht schon getan haben und machen weiter wie bisher, nichts. Der Clou ist ja, sie sind ja auch nur ein Teil des großen Schattengebildes. Im Prinzip hat ja meine Clara recht, aber wenn alle aufhören zu träumen, so wie sie, würde dann eine Revolution ausbrechen, oder die Erdbevölkerung auf Hundertmillionen Menschen sinken, nur die Reichen werden nicht zu Leichen, in Folge einer Selbstmordflut, weil sie eingesehen haben, daß es so nicht ist, wie es scheint?

 

Liebes Tagebuch 2.7.1991

Hätte mir jemand vor einem Jahr erzählt, daß ich dieses Jahr nicht allein, sondern mit meiner Freundin hierher nach K. kommen würde, ich hätte ihm gesagt: "Wenn diese Worte doch vollendet würden! Jedoch mir ahnt`s, daß mich das Schicksal übel höhnt, gesprochen durch deinen Mund, oh, bitte verschone mich mit deinem Spott." Frau Rötschel hatte Tränen in den Augen als sie mich mit meiner Clara drückte. Sie scheint mir noch liebenswürdiger als je zuvor. Auch Clara war sichtlich gerührt von diesem herzlichen Empfang. So gingen wir nicht gleich wieder los, sondern setzten uns zu den Alten in die Stube und erzählten wie wir uns kennengelernt haben, und was sonst noch so zu Hause los ist. Die Zeit verging viel zu schnell und der Abend war zu Ende. Wir sollten im großen Gästezimmer schlafen, doch ich wollte, um der Gemütlichkeit Willen, in das kleine Zimmer, wo ich all die Jahre zuvor allein geschlafen hatte. Auch weil hier nur ein Bett drin steht. Clara wollte auch sofort ins kleine Zimmer. Herr Rötschel sah uns lächelnd an und meinte, wieso er da nicht alleine drauf gekommen sei.

 

4.7.1991

Ein kleines Kämmerlein mit einem Bettchen drin, das Fenster nach Südosten zeigt, ein märchenhafter Ort, mit zwei märchenhaften alten Leuten, die es kein zweites Mal auf dieser kalten Erde geben wird. Gastfreundschaft, in ihrem Mund kein leeres Wort, ihre Augen, die nicht lügen können, zeigen wahrhafte Herzlichkeit, nicht dieses falsche Freundlichkeits-Gegrinse, welches einem überall von jedem übertrieben vorgegaukelt wird.

 

Liebes Tagebuch 5.7.1991

Wir haben uns heute Räder von Rötschels geliehen und fahren nach Süden, weg von der Küste, eine Kullerrunde drehen. Es scheint die Sonne und geleitet uns von Dorf zu Dorf. Wir nehmen alte Ackerwege und Holperstraßen, denn auf den Land- und Fernverkehrsstraßen ist es unerträglich voll geworden, es stinkt und der Lärm ist furchtbar. Doch auf den Wegen mit den vielen Schlaglöchern und Steinen, da liegt schon mal das Glück mitten drauf und die Fliegen umsummen es. Mal stehen am Rand Obstbäume, mal Kastanien, Ahorn, Linden, oder gar keine Bäume, sondern nur grüne Wiesen mit Mohn und Kornblumen, die Grillen und Heupferdchen zirpen, verschiedenste Vögel singen ihre Lieder, oder ein Kuckuck gibt seinen Ruf zum besten. Es ist das Paradies, wie es nicht schöner sein kann. Kühe stehen und liegen auf ihren Weiden, schauen unbeteiligt herüber und käuen wieder. Als wir gestern nach dem Sonnenuntergang nach Hause sind, begleiteten uns Fledermäuse, die wie Schatten durch den nächtlichen Himmel dahin huschten und durch feinste Geräusche zu hören waren. Es ist mir egal, wenn man gelehrt bekommt, daß man sie nicht hören kann, ich kann sie hören und Clara hat sie auch gehört. Es war so faszinierend, daß wir uns auf eine Bank am Park gesetzt haben und den Tieren eine Stunde zusahen. Wie aus dem Nichts schossen sie hervor, um dorthin gleich wieder zu verschwinden. Sie sind weder unheimlich noch eklig, diese Auffassung kann ich nicht nachvollziehen, geschweige, daß ich sie verstehen mag. Ich finde außer uns Menschen nichts unheimlich oder eklig in der Natur, denn jedes Individuum hat seine eigene Ästhetik. Nur wir Menschen haben sie durch unsere arrogante Haltung allen anderen Lebewesen gegenüber verloren. Wir brauchen sie ja auch nicht mehr, denn sie hat ja keinen materiellen Wert, und das ist ja in dieser Gesellschaft das einzige was zählt. So wird doch heute kein Buch mehr aus ästhetischen Gründen herausgebracht, wenn sich damit kein Geld verdienen läßt.

 

Liebes Tagebuch 11.7.1991

Der Himmel ist mit dicken Wolken zugezogen und es regnet schon seit Stunden. Doch das Wetter hält uns nicht ab, hinaus zu geh`n. So ging ich mit meiner Liebsten durch den Ort, am Strand entlang, das Meer sah aus, als würde es kochen, und süße Melancholie legte sich auf mein Herz, wie wir ganz eng umschlungen den Strand entlang schlendern. Wir setzten uns in ein kleines Café. Es hätte sonstwo sein können, es spielte keine Rolle. Ich nahm ihre Hände in meine und wir sahen uns, verliebter kann man sich gar nicht ansehen, tief in die Augen, wir bemerkten nicht einmal, daß die Kellnerin an unsern Tisch gekommen war. Das Café war fast leer, bei dem Wetter setzt ja auch ein normaler Mensch keinen Fuß vor die Tür, nur Verrückte und Wahnsinnige gehen bei diesem Wetter spazieren und suchen dann in kleinen menschenleeren Cafés die einsame Zweisamkeit. Bis uns dann endlich der Drang nach frischer Meeresluft ein zweites Mal an den verlassenen Strand trieb. Mittlerweile waren wir so durchgefroren, daß wir um die Wette zitterten, mit den Zähnen klapperten und wie zwei streunende Hunde asylsuchend nach Hause trollten. Clara ist nun unter die Dusche gegangen. Wir sollen dann hoch zum Kaffee kommen, Frau Rötschel hat frischen Obstkuchen gebacken. Als sie uns kommen sah schüttelte sie lachend den Kopf und meinte, daß wir von allen guten Geistern verlassen seien. Sie hat natürlich recht, denn ich habe in meinem Leben noch nie einen guten Geist getroffen.

 

Liebes Tagebuch 12.7.1991

Clara scheint sich bei unserem gestrigen Streifzug eine Erkältung gefangen zu haben. Ich war schon vor Sonnenaufgang wach und ging hinaus, um meinen Geist mit der Morgenluft reinzuwaschen. Ich wurde mit einem so schönen Schauspiel belohnt, daß ich fast verrückt vor Freude geworden wäre. Es wehte kein Lüftchen, und die Wiesen waren mit Nebelkissen zugedeckt, die verschiedensten Vögel waren, wie ich, schon wach, und sangen um die Wette. Mir wurde kalt, doch ich konnte, wollte noch nicht zurück. Da brach die Sonne durch und der Nebel begann sich langsam aber ganz allmählich aufzulösen. Wie Nymphen die zum Gesang der Vögel ihren letzten Tanz vorführen, bevor sie sich in ihre Bäume, dem Tage weichend, zurückziehen.

 

15.7.1991

Am Tag das bunte Treiben, wie Ölsa-dienen Menschenkörper so mancher Lust - am ganzen Strand, bau`n kleine und auch große Kinder Kleckerburgen in den Sand. Jungen, die mit Quallen nach den Mädchen werfen, die dann schreiend durch die Gegend flieh`n. Schöne Frauenkörper - Spannerblicke schärfen, Machos woll`n geseh`n werden - wollen Frauenträume dienen und zeigen ihr gar männlichstes Gebärden. Hin und wieder trägt der Wind eine sandige Panade auf die öl-verschmierten Leiber auf, und ein Ritt auf der Banane läßt so manches Kinderherz erblüh`n, dann kommt der Sturz in salz`gen Fluten, jeder Kreislauf muß den Schock ertragen, ihre Schreie kurz erklingen, her vom Meer an jedes Ohr mal laut, mal leise dringen. Reges Treiben auch am Abend, Liebespärchen füllen Strände, reichen sich nicht nur die Hände, viele Körper spürbar labend, ungeseh`n im Sand. Schon so manches einsam Herz hier ein zweites für die Liebe fand. So wird auch dieses Treiben von dem Triebe, der ganz tief auch in uns steckt, wenn die Lust erst mal geweckt, unaufhaltsam nicht nur hier und dort, einfach überall vorangetrieben.

 

Liebes Tagebuch 17.7.1991

Meine Clara schläft schon neben mir, es ist ja schon nach Mitternacht. Morgen fahren wir wieder nach Hause. Es ist so schön hier, daß ich diesen Ort nie mehr verlassen möchte, doch es geht nicht, denn Clara muß wieder arbeiten. Und allein will ich nicht hierbleiben, ohne sie, nein. Heut`, zum Abschied, haben wir gegrillt, den ganzen Abend hat der Alte Geschichten erzählt, sogar welche, die ich noch nicht kannte. Danach bin ich mit Clara zum letzten Mal für diesen Urlaub zum Meer. Wir legten uns in den Sand und sahen hinauf zu den Sternen. Ich komm` mir immer so winzig vor, wenn ich sie längere Zeit betrachte und spüre, daß es da oben noch anderes Leben gibt, intelligenteres, intelligenter als wir Menschen jemals werden können. Wie wir zurück kommen waren unsere lieben Zwei schon schlafen gegangen. Sie sind so unendlich lieb, daß ich wer weisß was für sie hergeben würde. Sie beharren nicht auf ihre Meinung, wenn sie einmal von der unsrigen abweichen sollte, und belehren auch nicht im Sinne, von mehr Lebenserfahrung. Sie jammern nicht und ich habe sie noch nie streiten sehen, oder hören. Sie verkörpern für mich die herzlichsten menschlichen Eigenschaften schlechthin.

 

Liebes Tagebuch 4.8.1991

Heut` hab` ich seit über einem Jahr den dicken Müller zum ersten Mal getroffen. Er hat eine Ausbildung als Maurer begonnen. Er war noch nie sehr helle, doch daß man mit achtzehn Jahren anfängt geistig abzubauen ist mir neu. Es sei nur eine Arbeit für richtige Männer, die anpacken können, neunmalkluge Weichwürste hätten gar keine Chance, das Geld stimmt und Bier gibt`s auch jeden Tag. Nächsten Monat will er sich einen Golf kaufen. Und an jedem Wochenende geht er zur Disco und schleppt irgendwelche Weiber ab, die tierisch auf ihn abfahren, vögelt wie ein Gott, haut sich die Rübe mit diversen Suff zu und nennt es Leben. Armer Müller, ich dachte immer, du würdest nicht so ein wandelnder Zombie werden.

 

Liebes Tagebuch 3.9.1991

Ach der Sommer verging viel zu schnell. Nun werden die Tage wieder kürzer, die Schule hat begonnen, doch ist dies mein letztes Jahr. Bert hat mich gefragt, ob ich schon mein Musterungsbescheid bekommen hätte, denn er hätte seinen schon, und bautz, heute kam er. Im Oktober muß ich nach C. zur Musterung. Ich hab` nicht vor, die Bundeswehr zu besuchen, also werde ich versuchen, daß ich den Zividienst gleich nach der Schule machen kann. Bert hat auf beides kein Bock, aber er muß ja eines, so hat er vor zur Armee zu geh`n, weil das kürzer ist. Er weiß sogar schon, daß er dann BWL studieren will. BWL das klingt so tot und leer. Ich laß` erst mal alles auf mich zu kommen. Meine Clara erzählt wenig von ihrer Lehre. Vielleicht bekomme ich ja einen Ziviplatz bei ihr im Krankenhaus?

 

Liebes Tagebuch 14.9.1991

Clara macht derzeit ein schreckliches Tief durch, ich weiß, daß ich ihr nicht helfen kann, denn es hat nichts mit mir zu tun. Tamara, ihre beste Freundin meint, daß es mit der Zeit wieder von allein` weggeht, es dau`re nur immer unterschiedlich lang`. Clara scheint sich an der Gesellschaft aufzureiben. Und das schlimmste ist, daß sie recht hat. Nun hat sie es geschafft mir die Augen zu öffnen, doch ich habe nicht gänzlich die Hoffnung verloren.

 

Liebes Tagebuch 16.9.1991

Bert hat mir heut` erzählt, daß er seit geraumer Zeit ein Auge auf die schwarzhaarige Süße aus der Elften geworfen hat. Er fragte mich, wie er sich ihr annähern solle, ohne daß er wie ein Idiot wirke. Mich, der durch den glücklichsten Zufall seines Lebens, die einzige Frau seiner unerfüllten Wünsche traf, fragt er. Ich war, bevor ich meine Clara kennenlernte, ein Unwissender in Sachen Frauen. Ich könnte mich krümmen vor Lachen, wenn ich es mir recht überlege, denn Bert ist nun wahrlich nicht schüchtern. Aber Clara hat mir erzählt, daß er erst zwei Freundinnen hatte, und beide waren so ziemliche Reinfälle, weil die Geschichten so unfein und dreckig von den Mädchen beendet wurden. Bert war zwar erst fünfzehn als das passierte, aber seit dieser Zeit weiß er nicht wie er sich Mädchen gegenüber verhalten soll, wenn er sie gut findet, wenn er an ihnen interessiert ist. Das ist natürlich eine bittere Pille, für einen, der als einziges männliches Wesen in einem Frauenhaushalt aufwuchs, wenn er seinen besten Freund, Banknachbarn und Freund seiner älteren Schwester fragen muß. Ich merkte, daß es ihm sehr unangenehm war und versuchte ihn ein bißchen zu lockern. Wenn ich ehrlich sein soll, habe ich starkes Mitleid mit ihm.

 

19.9.1991

Was soll nur werden, wenn wir uns weiter so gebärden, wie bisher? Diese Sorgen füllen meinen Kopf fast aus, so bleibt kaum noch Platz für schöne Dinge, welch ein Graus! Geb` ich mir die größten Müh`n, daß mein Mio nichts von meinen Sorgen je erfährt, daß ich ihn nicht auch in`s Unglück zieh`, ihm die Hoffnungslosigkeit erspar`, doch sein Auge ihm das Böse nicht verwehrt.

 

Liebes Tagebuch 24.9.1991

Oh diese Monstren, wie ich sie hasse, verachte, die Pest, Lepra, Impotenz und alles auf einmal wünsch` ich ihnen an den Hals. Doch, ihr Glück, statt dessen sind sie von unheilbarer Dummheit und Doofheit geschlagen, den Ausländern zum Pech. So lassen sie ihre Wut, daß sie dumm und ungebildet sind an den Vogelfreien aus, die nicht hierher gehören sollen und keine Rechte besitzen dürfen. Hoyerswerda, eine DDR-Paradestadt, aus dem Nichts, einfach aus dem Boden gestampft und dann, so schön. Oh Hekabe, welch brennend Fackel gebarst du uns? Sie brüllen Dinge, meinem Geist wird übel und muß sich übergeben, doch mein Herz will kämpfen, ich glaube sie haben im Geschichtsunterricht geglaubt, daß es alles Märchen und Sagen sind, so wie im Religionsunterricht, den sie nie hatten. Sie wollen wieder ein Deutschland in den Grenzen von 1933. Ich bin dafür, daß man, wenn man schon die Geschichte zurückdrehen will, das Rad richtig packen sollte und ihnen die Grenzen des Deutschen Reiches von 612 342 vor unserer Zeit geben muß, denn geistig betrachtet, scheinen diese Urviecher auf diesem Zeitniveau stehen geblieben zu sein.

 

Liebes Tagebuch 7.10.1991

Es ist schon ein komisches Gefühl, wenn ich mir überlege, daß dieser Tag noch vor zwei Jahren ein Feiertag einer Republik war, die bis vor einem Jahr noch existierte. Und nun gibt es weder die DDR noch den siebenten Oktober als Feiertag. Nun, wo ich darüber nachgrüble, merke ich, wie schnell doch die Zeit vergeht. Ich traure der Zeit nicht nach. Wieso auch? Es ist doch so, daß es den mobilen Menschen besser geht. Nur wer schläft verpaßt den Anschluß. Oder gibt es noch andere Möglichkeiten? So recht zufrieden bin ich mit diesem System nicht. Es ist so auf Falschheit aufgebaut, daß ich manchmal das Gefühl hab` im Land der Lügen zu sein. Wer ehrlich ist fällt auf, fliegt raus, und verliert. Da ist es wohl besser, daß man sich in sein Zick zurückzieht und lieber nicht nach draußen geht.

 

Liebes Tagebuch 15.10.1991

Ich war heut` bei der Musterung. Ist das eine Scheiße. Da rennen die schärfsten Agenten rum. Ich dachte die ganze Zeit, irgendwann muß doch der Felix kommen und mir die versteckte Kamera zeigen. Am schlimmsten war die Leibesvisitation. Zwei Graien führten voller Genuß diese durch, und schienen sich nicht genug am jungen Fleisch mit Sehen ergötzen zu können. So fummelte die eine lüstern an mir rum. Ein Horrorfilm kann nicht besser zeigen, als diese Szenen, die sich dort in dem Zimmer täglich abspielen. Bevor ich nach Hause fahren durfte, mußte ich ein Gespräch unter acht Augen führen. Mir gegenüber saßen drei verkappte Hilfsgeneräle, die von mir wissen wollten, warum ich nicht zum Bund wolle. Dabei hatte ich es ihnen schriftlich gegeben - geben müssen. Aber sie wollten es eben auch noch mündlich haben. Die haben echt alle einen an der Klatsche diese Soldatenfetischisten. Ich kann mir das nur damit erklären, daß sie ein sexuelles Problem haben, und nur der Anblick von Uniformen macht sie geil.

 

29.10.1991

Sie klagen und sie kämpfen, sie töten und sie fallen, denn sie glauben, es sei ihr Recht. Das mag so sein. Doch daß unter ihrem männlich Wahn, dem Streben nach der Macht im Land, die Zukunft - ihr eigen Fleisch und Blut - ohne Nahrung dahin verdorrt, weil Ruhm und Reichtum locken, und diese glühend Pfähle in ihre Augen pflocken. Im Kampfestaumel sie vergessen, daß sie Nahrung selber brauchen, wüten toll im eig`nem Land, wandeln ihre eig`nen Äcker, bald in Wüstenland. UNO-Truppen sollen helfen, ein Problem im Kopf zu lösen. Ein Mann seh` ich die Quecke schneiden, doch will er sie für ewig aus dem Garten bannen, so muß er sie samt Wurzel fangen und dem Feuer übergeben, und nicht die Chance zum Neuen geben.

 

Liebes Tagebuch 2.11.1991

Ich kann es nicht so recht glauben, was ich gerade im Fernseh`n sah. Da waren diese Menschen unendlich stolz, daß sie die letzte von den über siebenhundert brennenden Ölquellen von Kuwait gelöscht haben. Es mag ein Titanenwerk gewesen sein, doch der Punkt ist doch einzig und allein der, wir Menschen haben es nicht für nötig gefunden, diesen Tritt in die Weichteile der Natur zu verhindern. Sie rechnen mit Zahlen, wieviel Schaden denn entstanden sei, doch sind das die Zahlen, wieviel ihnen die Natur wert sei, und nicht die Unbezahlbarkeit der wahrhaften Naturschätze. Ich schäme mich ein Mensch zu sein. Wenn ich die Natur wäre, keine Minute würde ich zögern die Menschheit von der Bildfläche verschwinden zu lassen. Kein Mitleid würde ich mit keinem Menschen haben.

 

Liebes Tagebuch 18.11.1991

Seit zwei Wochen ist Bert schon mit Jessica zusammen. Ich find` sie hohl und Clara auch. Sie meint, daß er mit der auch wieder auf die Fresse fliegen wird. Jessica ist eines von diesen Girlis, die in den neusten Klamotten herumlaufen müssen, koste`s, was es wolle, auch wenn es der Verstand ist, den sie eh irgendwann verloren haben muß. Aber Bert ist glücklich und das macht mich froh.

 

Liebes Tagebuch 22.12.1991

Bert hat Clara und mich heut` gefragt, was wir Silvester machen wollen. Ich hatte mit Clara eigentlich nichts vor. Wieso auch? Dann rückte er langsam mit der Sprache raus. Ob wir denn nicht mit Tamara und ihrem René zur tollen Silvesterdisco mitkommen wollen, denn Jessica und er hätten noch vier Karten über. Er redete so lange auf uns ein, bis wir zusagten. René war auch nicht so begeistert, doch Tamara überzeugte ihn. Obwohl ich gar keine Lust verspüre dorthin zu gehen. Doch Clara will nun doch hin, weil sie der Meinung ist, daß wir danach sowas nie wieder machen, oder nur noch machen werden. Ich laß mich überraschen. Weihnachten werden meine Eltern das erste Mal ohne mich den Heiligabend verbringen. Sie werden`s überleben, schließlich habe ich ja meine ablehnende Haltung zu all dem ganzen Quatsch von ihnen.

 

Liebes Tagebuch 27.12.1991

Weihnachten verlief ruhig wie jedes Jahr in unserer Familie. Clara war ganz begeistert eine Familie kennen zu lernen, die sich mit dem weihnachtlichen Gedöns zurückhält. So saßen wir die letzten beiden Abende mit meinen Eltern zusammen und spielten gemeinsam Rommè. Ma und Dad sind von Clara ganz begeistert, sie behandeln sie, wie ihre eigene Tochter.

 

Liebes Tagebuch 1.1.1991

Nun waren wir zu dieser Disco und wissen jetzt, daß wir nie wieder hingehen werden. Es war noch schlimmer als ich befürchtet hatte. Diese ganzen Gestalten, wie sie sich gegenseitig übernett begrüßten, jeder zog eine fette Schleimschicht hinter sich her. Es war zum Teil so übertrieben freundlich, daß ich die Gedanken der einzelnen zu lesen glaubte, wo geschrieben stand: "Du Arschloch, ich dachte du wärst schon längst abgekratzt. - Das fehlt mir noch, der Idiot auch hier, hoffentlich bekommt der heute von irgend so`nem betrunkenem Typen auf die Fresse. - Die Schlampe, schon wieder, deren bescheuertes Gesülze geht mir dermaßen auf die Ketten, wird Zeit, daß die Olle mal richtig ran genommen wird." oder so, und dabei fielen sie sich fast um den Hals als sie sich begrüßten. Auf Krampf wollten alle - mußten alle lustig sein, selbst wenn sie sich am liebsten das Leben genommen hätten, was in meinen Augen wesentlich korrekter gewesen wär`. Je später es wurde, umso mehr zeigten sich die wahren Charaktere, die Schüchternen wurden aufdringlich, die Ruhigen wurden überdreht, die Netten wurden aggressiv, die Brutalen wurden sanft, die Traurigen wurden lustig, die Fröhlichen wurden depressiv. Zum Ende hin war es nur noch eine Masse von Menschen, die im tiefen Rausch das rausließen, was sie sonst im Alltag unterdrücken. Es war wie ein lebendes Theaterstück, nur Clara und ich gehörten nicht zu Truppe, wir waren Zuschauer. Es war mir eine Nummer zu heftig, aber es war gut, daß ich es mit eigenen Augen gesehen und Ohren gehört hatte. Auch Bert öffnete mir sein Herz und erzählte mir, daß er eigentlich froh ist, daß ich mit seiner Schwester liiert bin und nicht so`n abgedrehter Ökofutzi, zum Anfang war er ja nicht ganz so begeistert, und seine Jessica ist doch nicht die große Liebe, eigentlich macht er nur deshalb nicht schluß, weil sie gut im Bett ist. Das war für mich zu viel. Ich verachte diese Einstellung, weil sie nichts mehr mit Liebe zu tun hat. Wie kann man denn mit einem Menschen zusammen sein, den man nicht liebt. Das geht doch gar nicht. Was anderes ist es, wenn man über Jahre zusammen gelebt hat und sich so aneinander gewöhnt hat, daß man nur noch aus Gewohnheit zusammen bleibt und nicht aus Liebe. Ich weiß, daß ich nicht das Recht habe über dieses Thema zu urteilen, weil ich keinerlei Erfahrungen in dieser Richtung sammeln konnte, aber vorstellen kann ich es mir auch nicht, daß ich mit einem Menschen Sex haben könnte, den ich nicht liebe, das geht nicht in meinen Kopf.

 

12.1.1992

Da sitz` ich in so`ner Klasse und Typen labern vorn, jede Stunde eine and`re Fratze, an der Tafel, und labern und labern, bin nicht mal sicher, ob sie wissen, was sie labern, oder gar versteh`n? Verhalten sich wie Maschinen, in denen eingebaut Schwächen, die gar menschlich sind, unfähig sinnvolle Diskussionen und auch Dialoge mit denkenden Wesen, die da Schüler sind, auch nur ein kleines Stück zu führ`n, wollen nur ihren Stoff vermitteln. Sie sagen in BWL - so ist unser Staat aufgebaut, wie er funktioniert, und wie demokratisch, sozial und gerecht er doch ist, und daß wir dies alles wissen müßten und lernen, doch wie soll ich Dinge lernen, die ich ungerecht, gar als falsch empfinde? Den Tyrannen heiligsprechen?! Niemals! Das kann ich nicht. Ich bin doch kein Hund, den man dressieren kann. Da gibt es noch die Lehrer, der anderen Art. Sie fühlen wie du und denken so, doch hat dieses System seine Schäflein fest im Griff, voll unter Kontrolle. So schweigen sie und bringen den Azubis, noch so ein falsches Wortspiel, Sachen bei, die nicht stimmen, nicht für einen humanen Geist. Sie werden von diesem Tyrann gezwungen und sind schon längst bezwungen, liegt ihr einst aktiver Geist seit geraumer Zeit in Ketten und kann sich nicht entfesseln.

 

20.1.1992

Der Prozeß hat begonnen, gerade recht zur Narrenzeit. Angeklagt sind die Kleinen, die nichts taten, als gehorsam Befehle zu befolgen. Die, welche die Befehle gaben, werden allesamt mit Samthandschuh`n gestreichelt, denn wenn sie ihr Wissen offen legen, wird ein politisch - demokratisch funktionierendes System, nicht östlich der Elb`, in allen seinen Mauern und auch Ritzen, denn gerade dort, sind die Spitzenleute von Politik und Wirtschaft der Deutsch - Deutschen Zusammenarbeit tief verborgen, wie einst Sodom und Gomorrha im Flammenmeer und Schwefelregen untergeh`n. Würden die USA von Deutschland einverleibt, müßten deren Richter, die ein Todesurteil abgegeben auch vor Gericht gestellt, weil auch sie Befehle in Form von Gesetzen, welche menschenfeindlich sind, ihres Staates folgten, schuldig gesprochen werden. So folgt der Schluß, daß all diese Narretei von Narren inszeniert und von Narren durchgeführt, protokolliert, manipuliert, und von den vielen Narrverzauberten interessant verfolgt, gar fasziniert. Und die Narren, die wirklich Narren sind, nicht mehr weislich sagen dürfen, was weise Leute närrisch tun. Denn die weisen Leute - geistig ruh`n und ihre leeren Hüllen das Wasserhaus am Rhein bis an den Rand dort füllen. Es tropft und plätschert zur Genüge, ich könnte schwören, daß man dort betrüge, es ist Narrenzeit, doch seid gefeit, denn die Überraschung sah ich als Schattenbild, sie kroch. Nicht mehr lang und sie tritt ans Licht, wenn die Nacht den Aschermittwoch bricht.

 

Liebes Tagebuch 23.1.1992

Die Schule ödet mich zur Zeit dermaßen an, daß ich am liebsten alle meine Sachen packen möchte, Clara beim Arm nehmen und einfach mit ihr in einen Zug steigen, ohne zu wissen, welches Ziel er hat. Sie wär` sofort, ohne zu zögern, dabei. Ich habe manchmal das Gefühl, daß sie alles voraussieht, was auf uns zukommt. Daß sie weiß, daß wir nichts ändern können. Und die daraus resultierende Hilflosigkeit, sie zu erdrücken droht. Doch wir könnten doch vor der Welt fliehen, in unsere. Da wäre es nicht einmal um uns Zwei geschehen, obwohl sie vom Wissen gelähmt würde und ich unklug ohne Grund ihr folgte. Denn unsere Welt, in die wir uns begeben würden, ist gut, voll Leben und Liebe, Rücksicht und Harmonie. Ihre Lähmung würde genauso verschwinden, wie meine Unwissenheit.

 

Liebes Tagebuch 5.2.1992

Bert hat endlich mit seinem Besen schlußgemacht. Sie war einfach unerträglich, überhaupt finde ich zur Zeit alle unerträglich. Sogar meine Clara. Sie ist in den letzten Tagen so komisch geworden, daß ich sie lieber nicht sehen will. Vielleicht hat es mit ihrer Arbeit zu tun, aber sie erzählt ja nichts. Wie soll ich denn dann wissen, was los ist? Bert regt sich in einer Tour nur über diesen scheiß Typen auf, der sich sonstwie wichtig vorkommt. Er hat ja recht, aber er übertreibt. Wenn ein gewisser Sohn von Herrn sowieso, der rein zufällig Arzt ist, sich jede Sekunde bei den Lehrern im Arsch aufhält und dann versucht intellektuell zu reden, mit Fremdwörtern um sich wirft, von denen er nicht mal weiß, wie sie geschrieben werden, geschweige, daß er weiß, was sie bedeuten und dann auch noch zur Zeitung rennt und sich als rasender Reporter verkauft, dann ist das höchst lächerlich. Einerseits für diese Person, andererseits für alle, die den netten Jungen von nebenan gut finden, denn der Tobias ist nun mal ein Traum jeder Schwiegermutter. Aber ich würde mir wegen so einem Typen nicht den ganzen Tag mit Schimpfen versauen. Die ganze Welt ist doch voll von solchen hohlen Marionetten.

 

Liebes Tagebuch 25.2.1992

Es geht nun bald in die letzte Phase. Dann heißt es Schule ade. Was danach kommt ist ungewiß. Und doch, ich habe die Hoffnung, daß es eine Schöne Zeit, eine gute Zeit werden könnte. Oh man bin ich müde.

 

Liebes Tagebuch 7.3.1992

Ich fühle mich nicht gut. Irgend etwas hat mich runter gezogen und ich weiß nicht was. Die Schule kann es nicht sein. Mit Clara hat es auch in keinem Fall zu tun. Doch irgendwas zieht mir den Boden unter den Füßen weg. Vielleicht hängt es mit dem Wetter zusammen? Ich glaube, daß so manche Gefühlsphasen von ein paar Menschen eng mit dem Wetter zusammenhängen. Ob ich auch dazu zähle, kann ich nicht sagen. Mir ist einfach zum Heulen, ohne Grund. Ist das denn normal?

 

26.3.1992

Was nützt Unabhängigkeit? Und stürzen sich in den Ruin. Habt ihr den Geist des Titos schon vergessen, der Kampf, der einst euch so zusammen schweißte? Nun kämpfen wieder Brüder gegen Väter, angepeitscht von falschen Führern, versprochen ist das eigen` Land, verschwiegen, daß es abgebrannt, wenn der Kampf erst hat begonnen. Allzu dumm, daß der Blick der Strebenden, nie weiter als bis zum Rand des Tellers reicht, sonst wäre ihnen nicht verborgen, daß den Fehler, den sie gerad` beginnen wollen, and`re schon hundertfach begangen und noch immer nichts gelernt.

 

Liebes Tagebuch 2.4.1992

Heute war ich mit Clara im Park spazieren. Der Himmel war sattblau, die Sonne strahlte durch die zu Leben erwachten Bäume hindurch und zeichnete abstrakte Gebilde, die mich an Kinderzeichnungen erinnerten, auf die Erde. Überall beginnt sich das Leben neu zu formieren. Sie erzählte mir von ihrem Vater. Wie er mit ihr auch durch den Park gegangen war, daß er sie auf den Schultern trug. Wenn der Rummel kam, sind sie alle zusammen hin und er habe ihnen die Blumen und Tiere, die es beim Luftgewehrschiessen zu gewinnen gab, geschossen und Zuckerwatte und Waffeln gekauft. Ich nahm sie bei der Hand und wir ließen uns einfach treiben. Ihre Hand ist so klein und zart. Von weitem konnte man Kindergeschrei vernehmen und wenig später sahen wir zwei Kinder um die fünf Jahre mit ihrem Vater Hasche spielen. Die Kinder schienen uns gar nicht wahrzunehmen. Denn das eine Kind rannte immer zu um uns herum und versuchte sich zwischen uns zu verstecken, schrie und lachte. Wir blieben geduldig stehen, denn wir wollten sie nicht aus ihrer Welt reißen. Selbst der Vater scherte sich um uns `nen Dreck. Die Kindheit ist wohl die einzige Zeit, in der Sorgen gleich mit dem Erscheinen wieder verschwinden.

 

5.4.1992

Der April

 

Es ist die Zeit, wo im Sonnenscheine

Zu Aiolos schönsten Klängen

Flocken und auch Tropfen

Dicht aneinander drängen,

Hagelkörner klopfen,

Daß tanzend sich vereine

 

In Liebe, selbst das Kleinste,

Denn das Wetter zeigt sich toll

Fernab von Regelbahnen,

Nur dadurch wirkt`s gar wundervoll,

Liebende, im Wahn verlass`ne Rahmen,

Liebeswahn, der Unschuld reinste,

Regeln, Rahmen und auch Schelten

Heute mehr als Liebe gelten.

 

Liebes Tagebuch 19.4.1992

Ich habe eine Zivildienststelle im Krankenhaus, wo Clara lernt, bekommen. Sie ist nicht sehr davon begeistert. Es sei nichts für mich. Aber schließlich solle ich es alleine entscheiden. Nun will ich es ihr, auch mir, beweisen, daß ich es schaffe. Daß es nicht leicht wird, weiß ich allein. So bin ich neugierig, wo man mich einsetzen wird. Ma und Dad sind auf Claras Seite und geben ihr recht. Doch ich muß es selbst entscheiden. Armee kommt für mich einfach nicht in Frage und das wissen alle. Doch ist es gar nicht so einfach einen Ziviplatz zu bekommen.

 

Liebes Tagebuch 5.5.1992

Nun erlebe ich die Zeit der Prüfungen zum zweiten Mal. Doch dieses Mal ist es etwas anderes. Es ist wichtiger und schwieriger, als vor zwei Jahren. Mir bleibt kaum Zeit zum Lesen. Clara sehe ich auch nur nebenbei, die ganze Zeit geht für`s Lernen drauf. Doch sie weiß, wie wichtig es für mich ist. Auch wenn ich immer noch nicht weiß, was ich später studieren will. Aber eines steht fest, ich werde weder technische, noch naturwissenschaftliche Fächer studieren. Bert ist schon ganz heiß auf sein BWL-Studium. Er kotzt nur wegen dem Bund so ab. Und er ist frisch verliebt. Doch weder Clara noch ich haben seine neue Flamme zu Gesicht bekommen.

 

6.5.1992

Halten sich, für die Weltenpolizei. Züchten allerlei kleine Pflänzlein groß. Dumm, daß nicht alleine nur gute und gerechte drunter sind. Slanties, Niggers, Spic and Span, sind die bösen Jungs. Lungern in den Straßen rum. Meiden Arbeit wo es geht, dealen, rauben, morden bloß. Ihnen fehlt Sozialgefühl, wie es nur die Weißen haben. Polizisten sind doch nicht Rassisten, auf dem Videos sind Statisten, von den Drogenbossen hoch bezahlt. Und der ganze Zorn und Haß, der sich nun mit einem Schlag entlädt, keiner weiß, woher er kommt, und wohin er geht.

 

Liebes Tagebuch 6.6.1992

Oh Eunomia! Wieso straffst du nicht diese Tyrannen, die deinen Namen mit Schand` und Schalk beflecken. Welch ein Sinn hat ihr Schaffen? Es kann uns nichts nutzen, so nutzt es doch denen, die schon mit ihren Köpfen in den Wolken leben und mit ihren Füßen auf den Armenvierteln der ganzen Welt fest auf dem Boden stehen. Sie streiten offen, und haben sich insgeheim schon lang auf jenes geeinigt, was ihnen nicht schaden kann. So quälte sich der riesen Vogel beim Legen seines Eis, an Größe einer Milbe gleichend. Und heraus kam nur ein puffender Gestank, der gleich darauf in die Sphären uns`rer Welt verschwand. Anders kann ich das Ergebnis, welches sie erzielten, nicht betrachten. Ich kann nichts and`res, als ihr Ergebnis, wie auch sie selbst, aus meinem tiefsten Inneren mit Ekel stark verachten. Wollen sie doch wirklich den Ausstoß von Kohlendioxid bis zum Jahre 2000 auf den Stand von vor zwei Jahren senken. Ich ziehe meinen Hut vor dieser hohen Opferschaft. So frag` ich euch, falls es euch wirklich gibt! Ihr Götter - ist das gerecht?!?

 

Liebes Tagebuch 13.6.1992

Da ich mit Clara dieses Jahr keinen Sommerurlaub machen kann, haben wir beschlossen im Herbst wegzufahren. Wir überlegten hin und her und entschieden uns für Schottland. Da sie schon einundzwanzig ist, wollen wir ein Auto mieten und einfach drauflosfahren. Ich bin begeistert von der Sache. Es war Claras Idee, ich wollte erst nicht so recht, denn ich wollte lieber in den Süden, aber dann überzeugte sie mich mit ihren weiblichen Argumenten denen ich nichts mehr entgegensetzen konnte.

 

Liebes Tagebuch 14.7.1992

Jeden Tag sitze ich hier draußen auf meiner Wiese, auf der ich früher soviel gewesen bin. Die Zeit scheint hier stehen geblieben zu sein. Grillen spielen ihre Lieder und Vögel trillern ihre auch. All der Stress der Zivilisation, wie sie hetzen, ihr Leben lang, jagen ihrem Glück euphorisch hinterher. Würden sie nur einen Augenblick innehalten, könnten sie es mit ihren Händen fassen, mit Augen sehen, mit ihrem Mund schmecken, mit Ohren hören und durch ihre Nasen riechen. Für den Lebenden ist Zeit kostbar, doch hetzt er sie nicht zu Tode. Er genießt sie langsam und unentwegt. Nur wer jeden Augenblick genießen kann, ist wirklich frei von allen Sorgen. Was sind denn uns`re Sorgen? Sie sind, wenn ich sie mir genau betrachte, bedeutungslos. Zeit ist Geld. Ich bin glücklich, auch ohne Geld. Mein Glück kann mir auch keiner bezahlen, den Glücklichen bindet keine Zeit. Auch wenn ich kein Poet bin, trifft dieses Wort auch für mich zu.

 

23.7.1992

Heut` weiß ich mit Sicherheit, denn in meinen Händen halt ich uns`re Urlaubszeit. Geht es zu dem mir ersehnten Ort, von wo ich schick` all meine Sorgen fort, für die Zeit, die wir dort verweilen. Wo wir uns`re hier erlitt`nen Wunden, tief im Herzen, heilen, die von der Natur lieb verbunden. Schlägt ein Salto mir im Kopf, denn ich hör` das Glück, wie es an die Türe klopft. Stück für Stück, Stund` um Stund` hör` ich es näh`r kommen.

 

Liebes Tagebuch 5.8.1992

Bert ist heute mit seiner Julia nach Griechenland geflogen. Ich beneide sie um ihren Urlaub. Wie gern wäre ich auch dorthin geflogen. Aber ich kann es mir finanziell nicht leisten zweimal im Jahr in Urlaub zu fliegen. Zumal Clara für den Sommer keinen Urlaub bekommen hatte. So verbringe ich meine letzten Ferien hier zu Haus. Träume von der weiten Welt und hoffe sie irgendwann zu entdecken.

 

13.8.1992

Wie es mich mit Widerwill`n, Ekel, Haß erfüllt. Als Untertan vor denen kriechen, den hohen Damen und auch Herrn. Es nützt nichts, muß es doch ausgeschlossen sein, daß mein Mio zu einem and`ren Orte als zur Küche kommt. Denn ich will ihn weder bei den Kranken wissen, noch bei den Todgeweihten seh`n. Weiß ich doch, wie sehr er im Herzen, durch ihr Schicksal, leiden wird. So ist es doch schlimm genug, daß ich das Unglück, daß er nicht von seinem Plane, im Krankenhaus sein Dienst zu wagen, abzubringen war, nicht verhindern mochte. Ach mein Mio, du mußt doch nicht, nur um zu beweisen, daß du ein Held sein kannst, in einem Heldentanz deinen letzten Lebenswillen als Einsatz bringen. Nun bin ich vor Angst um dich fast von Sinnen, hör` von weiten schon der Sirenen Stimmen.

 

20.8.1992

Sie feiern ihr Entdeckungstag. Alle Ehren für Kolumbus Tat. Hat er doch der überleg`nen Welt eine Neue vorgestellt. Die man konnte nun nach Herzenslust gestalten und ausrauben. Ureinwohner, wie Vieh gequält, mußten an einen neuen König und viel wichtiger, an einen(!) Gott nun glauben. Missioniert, kontrolliert, drangsaliert, ja diese Tage sind höchst bedeutungsvoll, dürfen nie in Vergessenheit geraten, diese ruhmreichen Taten. Ach das ganze Jahr steht im Schatten dieser Feier, doch über allem schwebt der Heili`e Geist, legt über all das Unrecht einen Schleier, der nur auf all das Gute schön verweist.

 

Liebes Tagebuch 28.8.1992

Wer ließ diese Monster aus dem Labor? Erst entfernte man ihnen ihr Gehirn, brannte jede Liebe in ihren Herzen aus und injizierte hochkonzentrierte Pferdepisse von Deutschtum und all so`n and`ren Hokuspokus in ihren kopfhohlen Raum. Wie im November vor 54 Jahren schaut die Bevölkerung mit begeistertem Leuchten in den Augen den organisierten Killerkommandos zu. Der Terror von Rechts nimmt nicht zu, er ist schon lange da. Doch er wird von einem Staat toleriert, da er die Gewalt von Links mehr als von Rechts fürchtet. Denn Rassenhaß und Nationalstolz gehört mehr zu uns als soziale, demokratische Gerechtigkeit. Und eigentlich will man ja auch den deutschen Kaiser wieder zurück. Immer mehr schäm` ich mich für unser dummfalsches Schrei`n, zur falschen Zeit am falschen Ort dem falschen Gott - "Helmut, Helmut, Helmut!" Doch kann er ja auch nichts dafür, liegt sein Schaffen in guten Absichten wohl gebettet, auch wenn es nur zum Wohle seines Namens dient, trägt er doch keine Schuld, nicht an Hoyerswerda und nicht an Rostock und all den and`ren Städten, die da kommen werden.

 

Liebes Tagebuch 31.8.1992

Morgen ist mein erster Tag im Krankenhaus. Ich bin etwas aufgeregt. Wer wäre es nicht an meiner Stelle? Ist es doch der Beginn eines völlig neuen Lebensabschnittes für mich. Ich weiß ja nicht einmal wo ich eingesetzt werde, in welchem Bereich, auf welcher Station. Clara meinte ich kann Pech haben und als Pfleger auf die "Sterbestation", oder Glück haben und der Küche zugeteilt werden. Mit Tamara haben sie sich einen richtigen Spaß daraus gemacht mir Geschichten vom Pferd zu erzählen. Alberne Gänse.

 

 

 

Auswahl

 

letzte Bearbeitung: 29.01.2012 Literatur Dramen Kontakt: Ray Helming