Schuld



Eine Schnecke kriecht über eine Straße, da kommt ein Träker. Die Schnecke ahnt nichts von der Gefahr, die ihr droht. Der Träkerfahrer ist in Gedanken, sieht die Schnecke nicht. Das Schneckenhaus zerberstet in Bruchteilen von Sekunden. Sie hat nichts gemerkt und er hat nichts gemerkt. Die Schnecke klebt nun als eine Masse, die kaum noch als Schnecke zu erkennen ist, auf der Straße.

Hatte die Schnecke Schuld? Sie hätte ja nicht über die Straße kriechen brauchen.

Hatte der Fahrer Schuld? Er hatte sie ja nicht gesehen, und selbst wenn er sie gesehen hätte, wer sagt denn, daß er um sie einen Bogen gefahren wäre.

Oder ist der Träker schuld? Es war sein Gewicht, welches das Haus zerstörte.

Oder das Rad? Es rollte ja schließlich über die Schnecke hinweg.

Oder ist der Erbauer des Rades schuld, oder der Erbauer des Traktors, oder die Erfinder des Traktors, des Rades, des Motors, die Zulieferbetriebe der Traktorproduktion?

Wer hat nur Schuld?

Wer hat nur Schuld am Vernichten, Zerstören, Töten, unbewohnbar machen des Blauen Planeten?

Glauben denn die paar naiven Phantasten der Ökobewegung, daß sie unter spektakulären Aktionen, in denen sie ihr unbedeutendes kleines Leben auf`s Spiel setzen, daß sie etwas retten können, was schon längst dem Untergang geweiht ist?

Mit jeder Aktion, die sie unternehmen und die die Weltöffentlichkeit erreicht, werden zehn neue versteckte Vergewaltigungen an der Erde verübt.

Wir haben es noch nicht gemerkt, weil wir nur das wahrnehmen, was uns persönlich betrifft, nur uns allein und keinen anderen.

Die Welt auf der wir leben, ist zu sehr verletzt. Wir verletzen unsere Erde jeden Tag auf`s Neue. Wir überkleben die Wunden mit bunten Pflastern, aber wir machen die Wunden nicht sauber. Wir pflegen den Patienten nicht. Unter den Pflastern bilden sich eiternde Geschwüre, die wir nicht bemerken, nur wenn der Zufall es will, weil wir ausversehen ein Pflaster entfernen. Dann schlagen wir die Hände über unseren Köpfen zusammen und Minuten später haben wir es vergessen, denn es sind ja nicht unsere eigenen Geschwüre, die wir erblickt haben.

Wenn wir die Wunden von den Ökonarren gezeigt bekommen, schrecken wir kurz auf, wie bei einem Nadelstich, und Sekunden später können wir uns an nichts mehr erinnern, haben alles vergessen. Wie ein Kind, das einen Luftballon haben will, wenn es ihn hat, lässt es den Ballon los und spielt wieder im Dreck.

Es gab eine Zeit, da konnte sich unsere Erde, von den Schäden, die wir ihr zufügten, selbst heilen, daß ist unendlich lang her.

Wer hat Schuld, wenn die Erde in wenigen Jahren, gemessen am Zeitraum den sie existiert, nicht mehr bewohnbar ist?

Die Forscher und Wissenschaftler, weil sie dafür sorgen, daß alles noch gründlicher und schneller geschieht?

Die Politiker, weil, sie haben doch angeblich die Macht alles zu ändern, warum unternehmen sie dann nichts?

Die Bosse der Wirtschaft und Industrie, weil sie aus Gier über Wunden und Leben gehen?

Die Armen, weil sie nicht aufbegehren und nur vom Wohlstand träumen?

Der einfache Mensch, weil er zu müde zum Denken ist?

Die Gläubigen, weil sie auf Götter vertrauen, die nicht existieren?

Wer ist schuld am Tod der Schnecke?



Ray Helming, 8.8.96, "Aus den Tagebüchern zweier Lebender"

 

letzte Bearbeitung: 29.01.2012 Literatur Kurzgeschichten Kontakt: Ray Helming