ÖPNV - Die absolute Erlebniswelt

Der ultimative Kick mit dem Semesterticket


Es ist meine Natur, meine Rolle als Student, die ich nach besten Bemühungen versuche auszufüllen, so wie man es von mir erwartet. Zum Student-Sein gehört natürlich auch, dass man das Fahrrad oder, wenn man vom Dorf kommt, den ÖPNV benutzt. Schließlich ist das öko und so was zeichnet einen wahren Studenten aus. Ich sage euch, vergesst die Klischees, von wegen lange filzige Haare, bei mir ist das schon aus gentechnischen Gründen gar nicht möglich, oder selbst gestrickte Kamelhaarwesten, Schlaghosen und Römertreter, alles out und fast nicht mehr da.

Ne, ne, einen echten Studenten erkennt man nicht mehr am Äußeren, es ist seine Attitüde, die ihn verrät. Erste und wichtigste Einstellung: benutze ÖPNV! Studenten, ich meine natürlich nur die echten, die wahren, benutzen kein Auto - selbst wenn sie es von Papi an die Backe geschmiert bekommen oder von Oma oder Opa anal hineingeblasen bekamen - sie lehnen das Auto kategorisch ab. Das ist eine feine Einstellung, für die es sich sogar zu kämpfen lohnen würde, wenn man nicht zu den Kriegsdienstverweigerern gehören würde. Nach dem dies auch geklärt ist, will ich nun näher zum Lobgesang auf den ÖPNV hin robben.

Gepriesen sei der ÖPNV, denn er führt so viele Menschen zu einander. Tagtäglich kann man es mit eigenem Leib miterleben, wie sich alte Bekanntschaften, die sich seit Jahren der unfreiwilligen Trennung, vom Schicksal zerrissen, nicht sehen konnten - der moderne Mensch hat einfach keine Zeit - im Bus wieder begegnen und spontan über einfühlsame Gespräche wieder zu einander finden. Ein wahrer Erlebniskessel, der sich dem aufmerksamen Psychologie, Pädagogik oder Soziologie Studenten offenbart, wenn er die Zeichen und verschlüsselten Gespräche zu deuten versteht. Man kann die soziale Geborgenheit geradezu spüren. Was gerade morgens eine sehr intensive Erfahrung sein kann. Steigt man in den Bus, werden orientalische Phantasien geweckt. Schließt man die Augen, könnte man fast glauben, man befände sich auf einem orientalischen Basar, so viele Düfte durchschweben die Luft. So angezogen wie ich mich vom Basar fühlen würde, so extrem boxt es mich nicht selten beim Betreten des Buses aus meine Birkenstock. Aber wenn man gut gefrühstückt hat, braucht man auch keine Angst haben, dass einem der Kaffee noch mal auf das T-Shirt plumpst. Würde ja auch schön blöd dreinschauen. Gerade wenn so viele Girlys mitfahren. Wobei ich bis vor kurzem noch stark davon überzeugt war, dass einige von diesen unter chronischen Lippen- und Zungenproblemen leiden würden. Weil sie, wie Schlangen, ständig mit der Zuge in der Luft rum fuchteln. Eine Zeit lang dachte ich, dass es vielleicht ein neuer Trennt beim Flirten sei, aber später bemerkte ich, dass sie alle Schrauben, Nägel und andere Werkzeugutensilien in der Zunge zu stecken hatten. Wieso hilft ihnen denn keiner, dachte ich bei mir. Wo doch morgens die Buse immer so voll sind. Gerade die Stehplätze sind ja besonders gefragt und dem entsprechend selten. Na ja, und die die keinen Stehplatz abbekommen haben, setzen sich notgedrungen auf einen Platz zum Gang, damit sie wenigstens das Feeling von den Stehplätzen halbwegs abbekommen, und nutzen die unbeliebten Fensterplätze wenigstens als Ablage für die zentnerschweren Taschen und Beutel. Ich schließe mich da nicht aus. Zumal man ja als Student den Vorteil des Semestertickets intensiv - fast schon extensiv - nutzen kann. Wenn man mal kein Bock auf Vorlesung hat, trinkt man eben drei Becher Mensakaffee - mhh lecker - und fährt dann mit dem Bus. Für ein bisschen Spaß bis zum Bahnhof, denn da ist am meisten los, und zurück. Aber die absoluten Freaks und Cracks, die gnadenlos auf Hardcore stehen, holen sich ihren Mint Trip in dem sie die gesamte Reichweite des Tickets auskosten.

Ja, so ein Semesterticket ist echt deli. Ist ja auch nicht billig. Da kann ich die vollabgebrühten Dicks verstehen, die die Kohle lieber sparen wollen, weil es den Nervenkitzel, ohne Ticket zu fahren, ins Unendliche peitscht. Aber mit dem Urteil des Bundes Verwaltungsgericht vom Mai '99 müssen die Ärmsten ihre Kohle dem blutsaugenden Asta überlassen. Aber ich weiß Rat. Wer dennoch den gesteigerten Erpelparker spüren will, kann doch sein Semesterticket einfach bei Mutti lassen. Das hat sogar den doppelten Vorteil, dass man das Gefühl vom Schwarzfahren bekommt und, wenn doch was schief geht, kann Mutti mit dem Ticket einen aus den Fängen der Schergen wieder raus boxen.

 

Ray Helming, Frühjahr 1999

 

letzte Bearbeitung: 29.01.2012 Literatur Kurzgeschichten Kontakt: Ray Helming