Der Hefestrand - oder der falsche Engel

 

Ich versuchte an diesem Abend nicht zu viel zu trinken – wozu sollte es auch gut sein – aber wer fragt schon danach. Also fingen wir erst einmal mit einem billigen Rotwein an. Es ist schon schwierig, etwas zu beschreiben, was man noch nicht richtig begriffen hat – zumal wenn man sich konsequent weigert, es zu begreifen. Also war es wohl doch wieder an der Zeit sich die Rübe zu zudröhnen – ohne nach den Verlusten an Hirnzellen zu fragen – alles einkalkulierte Bilateralschäden. Und mit jedem Schluck spürte ich weniger den billigen Geschmack des Weines und, was noch viel besser war, das woran ich nicht denken wollte – auch wenn ich gar nicht wusste, was es war. Als der Wein alle war, verhieß es aufzubrechen. Der Weg durch die feuchte und noch junge Dezembernacht hatte etwas sehr sinnliches – was nicht damit zusammen hing, dass Weihnachten soeben auslief. Und wenn doch, so würde ich es wohl fundamentalistisch abstreiten. Noch so eine Eigenart. Sei immer gegen die Meinung der Mehrheit – an der ist fast immer was faul – sei nie der Meinung der Minderheit, denn sie liegen fast immer falsch. So ist es doch hin und wieder schwer eine eigene Meinung zu bilden oder zu haben, die sich eindeutig von den anderen beiden unterscheidet. Ja, ich würde denken, dass das zwanghaft ist. Nein, es stört mich nicht. Warum sollte man versuchen seine Neurosen zu kanalisieren oder gar einzuzwängen, wenn sie frei losgelassen enorm viel Spaß bringen. Zugegeben, manchmal sind damit auch Missverständnisse oder Probleme verbunden, aber dann betrachte ich es wie mit dem Trinken – einkalkulierte Bilateralschäden. Und es hat doch etwas reizvolles – rebellisches – zu wissen, dass es einem auch schadet und man tut es dennoch.

Als wir an dem Laden im Zentrum ankamen, war von dem Wein in meinem Nervensystem nichts mehr übrig – zumindest merkte ich nichts mehr davon. Ein klares Signal schnellstmöglich den Tresen aufzusuchen und ein helles Hefe zu bestellen. Wenn ich das nicht in die Wege geleitet hätte, dann ...  Ja, was wäre dann? Es ist halt diese Art von Laden, den man nur bedröhnt erträgt – ertragen will – kann. Misst! Der Wein war wirklich dem Fußmarsch zum Opfergefallen. Das merkte ich, als ich mein Drittes verschlungen hatte und immer noch nicht gleichgültig durch den Laden stolperte. Stattdessen lehnte ich gelangweilt an einem Stehtisch, rauchte eine nach der anderen, musterte die Leute – wenig amüsiert – versuchte den Krach aus den Boxen zu ignorieren, was auch nicht so einfach war. Schließlich war er so laut, dass ein gegenseitiges ins Ohrbrüllen, die einzig mögliche verbale Kommunikationsform war. Aber das Gute unter guten Freunden ist, man versteht sich auch ohne Kommunikation. Das erspart einem am nächsten Tag die heisere Stimme – wenn man nicht so viel getrunken hätte. Irgendwann wirkte das fünfte Hefe schneller als ich es merkte, was vielleicht gut so war.

Da es mir nun unmöglich war, still am Tisch zu stehen, beschloss ich tanzen zu gehen. Was sollte ich sonst tun? Mein Blick war glasklar – nur die Leute waren gespenstische Nebelwesen. Da ich diesen Zustand all zu gut kenne, beunruhigte es mich keines Wegs. Ich schlich also wie in halbschneller Zeitlupe zur Tanzfläche und ignorierte den Beat. Ich bewegte mich im Rhythmus – in meinem Rhythmus, der ein wenig von dem der Boxen abwich. Vielleicht hatte mein Tanz etwas animalisches, vielleicht war ich aber auch nur viel zu besoffen. Nach einer Zeit – ich weiß nicht ob es 20 oder 80 Minuten waren – wer weiß das schon in einem solchen Trancezustand – es war der Punkt, an dem sich der Rhythmus aus den Boxen meinem Rhythmus angepasst hatte. Wenige Geistesblitze später wusste ich wieso. Sie spielten Musik, die ich auch freiwillig in meine Anlage packe. Nun sollte man meinen, dass ich jetzt erst so richtig aufdrehen würde, aber falsch. Ich bewegte mich nun zum halben Beat, aber konsequent im Takt. Was eigentlich völlig einfach ist, dennoch sehr spektakulär wirkt. Zumindest glaubt man das, wenn man 3,8 auf dem Kessel hat. Ein weiterer Vorteil bei diesen langsamen Bewegungsabläufen ist wohl die Tatsache, dass man ohne Probleme sich eine Zigarette drehen kann, wenn man nicht zu besoffen ist. Mit einer Zigarette in den Fingern und einem äußerst lässigen Gesichtsausdruck tänzelte ich durch die wenigen Leute hindurch – wie ein Geist – zur Bar. Hier bemerkte ich, dass von meinen Leuten keiner mehr da war. Zumindest konnte ich keinen mehr sehen. Was soll’s. Ich beschloss noch ein Hefe zu befreien und noch ein wenig den Laden zu prüfen. Es hatte etwas von einem Spaziergang am Strand. Die grellen Lichter, die mir ständig im Gesicht rum fuchtelten ersetzten die Sonne. Das Hefe übernahm das Rauschen des Meeres in meinem Kopf. Und die Leute - ein Teil von ihnen waren das Treibgut, von dem keiner wusste, wo es herkam und was man damit noch anfangen könnte und der andere Teil, der war wie die Möwen. So lang sie fern ihre Kreise zogen, war es in Ordnung. Sie durften nur nicht zu dicht herankommen, weil sonst die Gefahr bestand, angeschissen zu werden. Aber die Vorstellung mit einem Hefe am Strand entlang zu ziehen machte die ganze Situation fast schon schön. Seltsam, nun bin ich schon so oft rattenstramm durch diesen Laden gezogen, aber noch nie kam mir der Gedanke des Strandspazierganges. Ich fand diese Vorstellung so genial, dass ich mir Gleich darauf noch ein Hefe befreite und den Strandspaziergang ausdehnte. Wer weiß, bei solchen Spaziergängen kann man durch Zufall so manchen Bernstein, so manche Muschel oder so manchen Seestern finden. Auch dann, wenn man nicht einmal danach sucht. Und ich wurde fündig. Ein Weib, ein Wesen in Engelsgestalt und ich geblendet – wer weiß wovon – stand erstarrt da. Zu meiner Enttäuschung stellte ich, als mir meine Augen endlich klare Bilder ans Hirn lieferten, fest, dass ich sie schon kannte (hierbei spielte es keine Rolle woher). Sie war von geilen Keilern umgeben und nichts deutete darauf hin, wirklich gar nichts, dass sie sich unbehaglich fühlen würde. Schade! Ich wäre all zu gern als Retter in der Not erschienen – aber es sah mehr als überflüssig aus. Mit geiler Ignoranz schielte ich zu ihr rüber, würgte meinen letzten Schluck Hefe herunter, der schon längst verdaut roch. Wenn das der letzte Engel war, dann bin ich wirklich sehr froh – so würde mir das Warten auf den nächsten erspart bleiben. Aber ich weiß es besser. Der nächste Vollrausch würde mir wieder einen vorsetzen.

Ray Helming, 26.12.2006

 

letzte Bearbeitung: 29.01.2012 Literatur Kurzgeschichten Kontakt: Ray Helming