Frühstück



Und wieder war ein Wochenende herangenaht, und wieder wusste er nicht, was er tun sollte. Doch allein zu Haus bleiben wollte er nicht. Es ist schon komisch, die ganze Woche freut er sich auf `s Wochenende und wenn es dann endlich da ist, möchte er, dass es so schnell wie möglich wieder vorbei ist. Er weiß nicht einmal, wie lange es ihm schon so geht, doch ein paar Monate bestimmt. Er hat einfach das Alleinsein satt. Aber unter Menschen fühlt er sich nicht sonderlich wohl, sie sind alle so komisch, so materiell. Wann hat er sich denn das letzte mal so richtig mit jemandem unterhalten, vor einem Jahr? Und mit wem? Es war ein Wildfremder, er war nicht mal aus der Gegend. Und mit ihm konnte er sich über alles unterhalten. Und sein Name? Er weiß ihn nicht mehr. Es spielt auch keine Rolle, was zählt, ist das Gespräch und nicht irgendwelche Namen, Namen sind auswechselbar, wie die Menschen. Doch wie sollte er jemanden finden, wenn er nicht unter Menschen ginge. Dann kann er auch niemanden finden mit dem er sich unterhalten könnte. Es ist eine verfluchte Zwickmühle und sie ist jedes Wochenende zur Stelle, und es ist wieder Wochenende.

Er wagt gar nicht daran zu denken, dass er noch viel lieber jemanden hätte, der ständig für ihn da wäre, wenn er jetzt noch an eine Beziehung denken würde, in der die Liebe zu Hause wär, was ja in den aller wenigsten Beziehungen wirklich der Fall ist, dann griffe er wirklich nach den Sternen. Doch es ist wieder Wochenende. Soll er wirklich zu dieser dämlichen Disco hin? Vielleicht ist SIE ja da? So dachte er jedes mal, und jedes mal, ist er hingegangen, und sie war nicht da. Auf dem Nachhauseweg sagte er sich dann, ein nächstes mal gibt es nicht, ich geh da nie mehr hin, da hätt´ ich doch gleich zu Haus bleiben können. Und jede Woche wiederholte sich das Schauspiel.

Er liegt in der Wanne und genießt die Ruhe. Draußen ist es schon dunkel und er hat sich ein paar Kerzen angezündet, ihr Licht strahlt warm. Seine Gedanken schwirren in der Vergangenheit umher und malen viele Zukunftsversionen, was wird in ein zwei Jahren mit ihm sein? Er schaut in den Spiegel, um sich zu rasieren. Seine Augen schauen tief in sich hinein, doch was sehen sie? Seine Hand hält inne und er verharrt einen Moment, der sich immer mehr in die Länge zieht. Er fühlt, in ihm kommt etwas nach oben und sein Gesicht verformt sich, als würde er schreien, seine Gesichtsmuskeln beginnen zu schmerzen. Er rasiert sich weiter. Er überlegt, ob es nicht besser wäre, doch hier zu bleiben, aber die Angst, er könnte etwas verpassen, ist stärker, und zieht sich an.

Schon von Weitem kann man die dumpfen Bässe wahrnehmen. Der Parkplatz ist, wie jedes mal, randvoll mit Autos zugeparkt. Die Ordner schieben `nen echt coolen und mustern ihn mehrmals mit abfälligen Blicken, als wollen sie sagen: zu mehr hat´s wohl nicht gereicht?! Dabei strotzen ihre holen Fratzen nur vor animalischer Primitivität. Da er das weiß, lässt er sie in ihrer scheinbaren Überlegenheit zurück und steht drüber. Aus dem Saal dröhnt mit gnadenloser Härte die Musik, die in seinen Ohren nichts als seelenlose Aneinanderreihung von unangenehmen Geräuschen ist. Musik hat etwas mit Gefühlen zu tun, was er jetzt hört ist kalt, laut und tot, sie sagt nichts aus, aber sie passt zu den Menschen, die sie hören und danach tanzen. Wie immer wird er jetzt zwei drei Runden drehen, um alle zu grüßen, die sich zu seinen Freunden zählen, auch jene die er eigentlich nicht leiden kann und das sind die meisten von ihnen, danach eine Ecke suchen, in die er sich dann zurück ziehen wird, um den Abend, so schnell wie nur möglich, zu beenden. Wie jedes Wochenende.

Mittlerweile sind schon zwei Stunden vergangen, ohne dass irgendwas außergewöhnliches vorgefallen ist. Es ist, wie jedes Wochenende. Er stiert nun schon eine Weile vor sich hin, bis er sich selbst aus seinen Gedanken reißt und bemerkt wohin er eigentlich die ganze Zeit gestarrt hat. Er nimmt ein Gesicht wahr, es ist nicht sonderlich auffällig, doch hat es ihn tief versinken lassen, und er liest darin. Das Gesicht gehört einem Mädchen, dass sich anscheinend genauso fühlt wie er. Er weiß es nicht. Er ahnt es. Er hofft es. Er wünscht es sich, aus tiefster Verzweiflung, dass es so ist. Er sieht sie unentwegt an, er lässt kein Auge von ihr. Und sie, sie bemerkte von Anfang an, dass sie beobachtet wird. Und genießt es, denn sein Blick ist weder aufdringlich noch unangenehm. Man könnte meinen, er versuche sie zu hypnotisieren und sie widersetzte sich ihm. Und nach einer Stunde steht er auf und geht zu ihr. Er steht vor ihr und sagt:

"Lass uns gehen, hier ist es schrecklich."

"Findest du?"

"Ja."

"Wer sagt dir, dass ich mit dir ..."

"Du brauchst keine Angst zu haben."

"Ich habe keine Angst."

"Ich könnte doch einer von diesen vielen pervers brutalen Supermännern sein und lügen."

"Nein, du lügst nicht, du lügst nie."

"Woher willst du das wissen?"

"Ich weiß es eben und das muss genügen. Wollten wir nicht gehen?!"

"Wohin?"

"Das weiß ich doch nicht, du wolltest mit mir woanders hin. Na los, mir egal, Hauptsache hier weg, es ekelt mich an, diese Umgebung, all diese Hüllen."

"Warum bist du dann her gekommen?"

"Aus dem selben Grund, wie du auch. In der Hoffnung, dich heute hier zu treffen."

"Aber du kennst mich doch gar nicht."

"Eben, deshalb."

"Du bist sehr offen und direkt."

"Offen? Nein, keines Falls. Direkt, ja. Stört dich das?"

"Nein, ganz und gar nicht."

"Gut."

Sie gehen nach draußen. Alles lassen sie hinter sich und reden und reden. Sie haben sich so viel zu erzählen. Die Zeit vergeht. Der Laden hat schon längst zu und sie sitzen immer noch irgendwo in der Nacht und unterhalten sich aus voller Seele. Wie spät mag es jetzt wohl sein, fünf Uhr? Sie schaut ihn eine Weile nichts sagend in seine Augen und hört ihm zu.

" ... geht nun schon so lange so und ich..."

"Willst du bei mir frühstücken?"

Er schaut sie mit kullerrunden Augen an und bringt auf ihre Frage, die ihn, wie ein Hammer von hinten traf, kein Wort mehr raus. Er ist sprachlos. Die ganze Zeit haben sie nebeneinander gesessen, ihre Gesichter einander zugewandt. Keiner wagte eine Berührung, aus Angst etwas zu zerstören, doch beide fühlten mit zunehmender Gewissheit, dass da nun mehr zwischen ihnen war, als nur ein Gespräch. Und sie fragt ihn, ob er bei ihr frühstücken wolle. Aber natürlich wollte er, was für `ne Frage!? Ja, er will, sofort. Sie sieht ihn an und er braucht nicht zu antworten, wozu auch? Sie steht auf, stellt sich vor ihm hin. Schaut auf ihn herab und setzt sich auf seinen Schoß. Auge in Auge. Greift mit beiden Händen in seine Haare und küsst ihn. Sie küsst ihn. Er sitzt vollkommen hilflos da. Gelähmt. Er kann nichts tun. Er will auch gar nichts tun.

Es ist Mittag. Sie liegt regungslos auf ihm und starrt ihm tief in die Augen. Und er kann es immer noch nicht begreifen, was mit ihm in den letzten Stunden passiert ist. Aber seine Sprache hat er bereits wieder zurück.

"Wie alt bist du?"

"Altgenug!"

"Altgenug? Wofür?"

"Um mein Leben zu leben und zu lernen."

"Ich glaube nicht, dass ich dir behilflich sein kann."

"Ich schon."

"Wie kommst du darauf?"

"Ich fühle es."

"Was fühlst du?"

"Hunger."

"Auf was?"

"Dich."



Ray Helming, Oktober `95

 

letzte Bearbeitung: 29.01.2012 Literatur Kurzgeschichten Kontakt: Ray Helming